Bis sich der Nebel lichtet

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

„In Therapie“. Bei Folge 33 kommen mir auf einmal die Tränen.

Seit einer Woche schon bin ich dieser Sucht ausgeliefert. Jeden Tag zieh ich mir ein paar Folgen der 1. Staffel rein. Wie Dr. Philippe Dayan, Psychoanalytiker, höre auch ich zu. Höre, welche Fragen er stellt, höre die Antworten seiner Klient:innen. Der Anschlag dschihadistischer Terroristen auf das Bataclan am 13. 11. 2015 sitzt allen noch in den Knochen. Kurz danach setzen die Sitzungen ein und erstrecken sich bis Jänner 2016.

Am 7. April 2020 lief die 2. Staffel an. Jeden Donnerstag offenbaren 4 neue Klient:innen Intimes auf ARTE, nach 22 Uhr. Im Hintergrund der Serie bedauerlicherweise wieder ein Ereignis, das die Welt erschüttert, die Pandemie.

Die Türglocke schrillt. Philippe geht in den Vorraum. Der Montag-Termin gehört Ariane, Mitte 30, Chirurgin. Philippe öffnet die Tür. Hier lang, sagt er. Der Raum, wo die Sitzungen abgehalten werden, ist groß. Bilder an den Wänden. Regale voller Bücher. Lebendiges Chaos. Ariane steuert auf die rote Couch zu. Philippe sinkt in seinen Fauteuil. Legen Sie los, sagt er. Ariane ist aufgewühlt, eine junge Patientin, die an jenem unseligen 13. November im Bataclan schwer verletzt wurde, sei ihr fast weggestorben, erzählt sie.

Ariane ist jung und schön. Ihre vollen Lippen. Wenn sie lacht, entblößt sie eine Reihe weißer Zähne. Verführerisch, kokett, denkt Philippe, als sie sich mit einer flüchtigen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht streift. Sie gefällt ihm.

Diese Gefühle bereiten Philippe Sorgen. Er nimmt sich vor, seine alte Supervisorin anzurufen. Er müsse etwas loswerden, wird er ihr sagen, es betrifft eine seiner Klientinnen.

In der letzten Stunde teilte ihm Ariane unverblümt mit, dass sie sich in ihn verliebt habe, dass sie ihn begehre, dass sie mit ihm schlafen wolle. Arianes Begehren schmeichelt Philippes Ego, doch es darf nicht erwidert werden. Er ist gebunden, im doppelten Sinne. Auch an das Berufsethos. Die Anziehung ist gegenseitig, er ist hin- und hergerissen. Gerade jetzt, wo er vor den Trümmern seiner Ehe steht. Seine Frau hat einen Liebhaber.

Im Leben der Menschen, die zu ihm kommen, geht es drunter und drüber. Wie Verirrte im Nebel suchen sie Zuflucht in seiner Praxis. Er hört ihnen zu, er hält ihren Gefühlen stand, wenn Verschüttetes ans Tageslicht kommt, schmerzliche Erlebnisse der Kindheit.

In Folge 33 rechnet die 16-jährige Camille mit ihrem Vater ab, der nach der Scheidung den Kontakt zu ihr hat schleifen lassen. Sie entlarvt seine faulen Ausreden, lässt sich nicht länger abspeisen mit dem Sager, sie seien auch übers Telefon „connected“.

Dass Camille ihren Vater nicht mehr in Schutz nimmt, sondern ihn mit ihrer Sicht der Dinge konfrontiert, rührt mich zu Tränen. Es sind Freudentränen, weil für Camille, wie ich finde, die Therapie den größten Gewinn gebracht hat. Sie ist erwachsen geworden.

Und Philippe lächelt. Er freut sich auch.

© Sonja M. Winkler 2022-04-19

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