Bis zum letzten Atemzug (I/II)

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

“Die Leut kaufen wieder, als käm der Krieg.”, sagt die Omi vor mir beim Hofer in der Kassenschlange schmunzelnd. Ich lache leise auf, kippe dann den Inhalt meiner Tasche aufs Förderband und schlichte die zahllosen Grabkerzen schön zusammen. “Jeder Mensch führt wohl seinen individuellen schweren Kampf, nicht wahr?”, sage ich. Die Omi sieht auf die Batterie aus Kerzen, dreht sich mit einem traurigen Schein in den Augen wortlos um.

Die Lichter mit dem schönen Herzen und den schlichten Worten “In Liebe”, die ich Lydia immer aufs Grab stelle, gibts manchmal nicht; drum kauf ich alle weg, wenn welche da sind. Kurz drauf bekommt Lydia ein neues Licht, und ich nehm die totgefrorenen Blumen weg vom Stein.

Aus den bisherigen kargen Infos, die ich in meinem Kampf um Informationen über die letzten Jahre ihres Lebens bekommen habe, scheint sicher zu sein: Lydia glitt nach unserer Trennung wieder in die Bulimie ab. Und letztendlich dürfte sie wohl deswegen auch ins Koma gefallen sein, weil ihr Herz wegen des jahrelangen körperlichen Raubbaus am Ende versagt hatte.

Ich seufze schwer, als ich überlege, was ich zu ihr sagen soll.

“Wieso hast du dich nicht gemeldet, Pollenfee, als es dir so schlecht ging?“, frage ich leise, den Blick voran, über den Stein hinweggerichtet. “Du wusstest, wo ich wohnte, hattest meine Nummer. Selbst wenn du sie gelöscht hattest, ich bin doch zu finden auf social media. Pollenfee, um Gottes Willen…! Ich wäre doch dagewesen für dich.“ Der Wind fährt mir bitterkalt durch den Bart. Ich wollte sanft sein, liebevoll mit ihr sprechen. Doch ich spür, dass ich wütend bin. “Scheiße, Süße! Wir waren doch schon so weit gekommen. Die drecks Bulimie war quasi überwunden. Wie konntest du nur wieder da reinkippen?”

Als ich mich von Lydia trennte, als ich keine Kraft mehr hatte, als sie mich angeschrien hat, ich sei nie für sie dagewesen, da hab ich ihr wohl nicht nur meine Liebe fortgenommen, sondern ihr auch den Boden unter den Füßen weggezogen. Und Lydia tat, was sie gelernt hatte zu tun, in einem Leben ohne Liebe: Essen, Kotzen.

“Warum nur hast du nicht einfach an meine Tür geklopft, Süße? Ich wär doch dagewesen für dich. Du hättest mich nicht lieben müssen, mich nicht küssen, nicht wieder mit mir zusammen sein. Ich hätte noch einmal mit dir von vorne angefangen. Du und ich gegen die verfluchte Bulimie. Du wusstest doch, dass ich dich für immer lieben würde. Ich hatte es dir versprochen.”

Ich suche gar nicht erst nach Gründen, die vielleicht abseits unserer Trennung zu Lydias Rückfall geführt haben könnten. Ich hab sie losgelassen, als ich sie hätte festhalten sollen.

“Du hättest nicht sterben müssen, Pollenfee.”, sag ich leise: “Ich hätt‘ dir wieder geholfen. Gemeinsam hätten wir deinen Dämon noch einmal besiegt. Du hättest leben können, wenn du nur ein Wort gesagt hättest…” Und nach einer kurzen Pause setzte ich fort: „Ich hätte leben können, Pollenfee.

[…]

© MISERANDVS 2021-12-18

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