von Yvonne Ineichen
Seit einigen Tagen stakse ich auf 3 Beinen durchs Leben. Ein kleiner Ausrutscher auf der Skipiste bescherte mir eine Tibiakopffraktur, besiegelte das Ende meiner Skisaison 20/21. Ich bin zur Meisterin der Langsamkeit mutiert. Und stelle fest: der Alltag hält einige Überraschungen bereit.
Ich stöckle in Richtung Sternmatt. Mein Weg führt am Behinderteneingang der St. Michaelskirche vorbei. Das Gebäude zieht mich an. Ich mag diese andächtige Stille in menschenleeren Kirchen. Ein paar Meter von der Eingangstüre entfernt steht Säule mit dem automatischen Türöffner. Ich drücke darauf, humple los. Just als ich die Türe erreiche, schliesst sie wieder. Ein zweiter Versuch. Das gleiche Spiel. Nach dem Dritten gebe ich auf. Das soll behindertengerecht sein?
Mein Abenteuer geht weiter: einkaufen im Geissmattdörfli. Wie ich das ohne eine freie Hand erledige? Mein Plan: Ich trage meinen Rucksack als Kängurubeutel und hüpfe von Regal zu Regal. Ich peile die Tomaten an. Beuge mich vor, um nachen einer Packung Cherrytomaten zu greifen. Mein Rucksack entwickelt ein Eigenleben, streift ein paar Packungen und befördert sie auf den Boden. Selbstverständlich öffnen sich alle Deckel wie von Zauberhand. Ich bin gefangen im Tomatenland, rufe um Hilfe. Die Auszubildende eilt herbei. «Oh … » Sie hält sich die Hand vor den Mund. Ihr Kichern blubbert nur als kleine Bläschen zwischen ihren Fingern hervor. «Lassen Sie mich nur machen. Ich hole Ihnen einen Wagen und stelle ihn in die Mitte des Geschäfts. Dann können Sie alles in den Wagen legen.» Klingt super, eigentlich. Ich stehe vor dem Regal mit den Milchprodukten und grüble. Ein Liter Milch, zwei Becher Bioquark … ich stopfe die Becher in die Jackentasche. Die Milch klemme ich mir unter eine Achselhöhle und hoffe, dass wir alle heil beim Wägelchen ankommen. Der Schweiß rinnt mir in kleinen Bächlein den Rücken hinunter, ich keuche vor mich hin. Wo ist denn meine Kondition hin? «Ich bin fertig. Kann jemand den Wagen holen?» brülle ich quer durchs Geschäft. Die Auszubildende eilt herbei, bringt mein Wäglein zur Kasse, lädt aus und packt für mich ein. Wenn sie jetzt ihre EC Karte zückt und meine Einkäufe bezahlt, bin ich vollends gerührt. Tut sie nicht. Sprachlos ob der Hilfsbereitschaft bin ich trotzdem.
Ich peile die Bushaltestelle an. Der Bus vor meiner Nase. Ich hieve mich hinein. Und lasse mich auf den erstbesten Sitz plumpsen. Mir gegenüber sitzt ein junger Herr in einem Rollstuhl. Er blinzelt mir zu und meint: «Na, bist du auch behindert?» Zu perplex für eine schlagfertige Antwort, nicke ich ergeben und nuschle: «Ja, irgendwie schon …» Wir grinsen uns an. Bei der Rodtegg muss er aussteigen. Ich auch. Der Buschauffeur lässt für den Rollstuhlfahrer die Rampe runter. Dieser blickt mich an und meint: «Geh du nur vor.» «Nein, nein, du bist sicher schneller.» Worauf er erwidert: «Brauchst du Hilfe? Mit Behinderten kenne ich mich echt aus …» Wir lachen beide lauthals und dann rollt er davon.
© Yvonne Ineichen 2021-01-14