von Franz Brunner
Ich saà unruhig im Wartezimmer meines Zahnarztes und blÀtterte lustlos in einem Hochglanzmagazin. Nichts daran war erfreulich.
Erstens warte ich ungern und bin selbst pingelig pĂŒnktlich. Zweitens gibt es fĂŒrwahr schönere Momente, als wenn jemand fehlersuchend in meinem Mund herumstochert, und drittens wĂŒrde ich fĂŒr eine Zeitschrift wie diese keinen Cent ausgeben. Trotzdem geschah es gerade hier, dass ich zu reflektieren begann. 15 Fragen, die sich jeder von uns stellen sollte, so die Einleitung zu einem Artikel, bei dem der Eye-Catcher mit einem antiken Spiegel offensichtlich funktionierte, ich las die ersten Zeilen. Noch bevor mir der Psychologie-Experte erklĂ€ren konnte, warum ich das denn tun sollte, gerade diese Fragen zu beantworten, wurde ich aufgerufen. Warum auch immer, ich zĂŒckte rasch mein Handy, um diesen wichtigen Fragenkatalog zu fotografieren.
Die Zahnreparatur war erfolgreich und dank ordentlich viel BetĂ€ubungsmittel sogar schmerzfrei. Ich gönnte mir eine Stunde Erholung bei leiser Musik, lud den Fragenkatalog aufâs Display und flog kurz drĂŒber. Nicht alle Fragen waren auf Anhieb eindeutig zu beantworten, bei Frage 12 blieb ich kurz hĂ€ngen: Haben Sie Angst vor dem Tod? Ein promptes und klares NEIN. Als RettungssanitĂ€ter hatte ich schon öfter mit dem Tod zu tun und er erschien mir als nichts Schreckliches, zum Leben gehörend. Nein, Leiden musste nicht sein, aber Sterben, das geht. Doch halt, ich bin ja nicht allein auf dieser Welt. Da gibtâs immerhin jemanden, mit dem ich seit 46 Jahren aufâs Engste und Herzlichste verbunden bin. Und dann begann meine analytische MĂŒhle zu arbeiten.
Ich mag gar nicht dran denken, wieâs mir gehen könnte, wenn mein Herzblatt vor mir geht. Es wĂŒrde wohl nur ein beschĂ€mendes HĂ€ufchen Elend von mir ĂŒbrig bleiben. Umgekehrt: Wie wĂŒrde es ihr gehen, wenn ich mich vordrĂ€nge? Nein, beides keine Optionen, die mich beruhigen. Also so ganz unbesorgt stehe ich dem Tod doch nicht gegenĂŒber. Bleibt die Variante, sich gleichzeitig zu verabschieden, beispielsweise mit dem Flugzeug abzustĂŒrzen. Ja, das hat was, das könnte ich mir gut vorstellen.
Doch nur meiner eigenen Befindlichkeit wegen Dutzende, vielleicht Hunderte andere Menschen mitsterben zu lassen, das ist ebenfalls keine beruhigende Alternative. Noch bevor ich mir weitere Möglichkeiten eines angst- und schmerzfreien Abgangs ausmalen konnte, erschien mein Lebensmensch, um mir mit einem Glas Tee die Nachwehen des Zahnarztbesuchs zu erleichtern.
Ich konnte nicht anders, ich musste sie augenblicklich umarmen. Ohne jegliche Vorwarnung, aber ganz und gar nicht grundlos schloss ich sie in meine Arme und drĂŒckte sie fest an mich. Es bedurfte keiner ErklĂ€rungen, sie weiĂ seit Jahrzehnten, dass ich ein schrĂ€ger Vogel bin. Und die machen so was manchmal.
Sekunden vergehen. Sekunden, die mir unglaublich viel bedeuten. Ihr auch, sonst wĂŒrde sie nicht wie ein KĂ€tzchen schnurren. Nein, heute wird noch nicht gestorben.
© Franz Brunner 2022-09-25