von Cornelia Hell
Laura blickte auf das Meer hinaus; der Strand von Palanga war um diese Uhrzeit menschenleer. Sich vom Horizont ausbreitend begann die Sonne langsam, die Wangen des neuen Tages zu röten. Sie nahm einen Schluck Kaffee aus dem schwarzen Bambus-Becher. Marius hatte in ihr vor wenigen Tagen geschenkt, ihn zierte nur ein weißes Wort: Laisvė – Freiheit. 2019 war sie das letzte Mal in Vilnius gewesen, als dreißig Jahre Baltischer Weg gefeiert wurde. Damals hatte sie erfahren, dass alle aus ihrer Familie, die zurückgeblieben waren, Teil der Menschenkette von Vilnius bis Tallinn gewesen waren. Die Frau aus der Menge hatte sie auch zwei Jahre später nicht vergessen. Bei einigen Gläsern Gin Tonic hatte Aivaras ihr vor einer Woche schließlich von Lara erzählt.
Sie waren Haus an Haus aufgewachsen, hatten gemeinsam studiert und an der Landwirtschaftsschule in Tytuvėnai unterrichtet, obwohl beide mehr wollten – rauswollten aus der Enge dieses Lebens. Am 23. August 1989 waren sie mit Freunden nach Vilnius gefahren und Hand in Hand mit hunderttausend anderen für ihre Unabhängigkeit aufgestanden. Danach war sie nicht mehr zur Arbeit erschienen, nach einigen Monaten hatte Aivaras sich eingestanden, dass er sie vielleicht nie wieder sehen würde. So waren die Jahre vergangen, er hatte geheiratet, seine Kinder, Nichten und Neffen heranwachsen sehen, miterlebt, wie seine Schwester der Liebe wegen das Land verlassen hatte. Und jeden Abend betrachtete er Laras Foto, ehe er sich schlafen legte. Bis er 2019 zu seinem 60. Geburtstag eine Postkarte aus den USA erhielt.
Vor zwei Jahren war Laura, während einem der Konzerte, in der Menge eine Frau aufgefallen, die ihren Onkel anstarrte – als sie zu ihm blickte, sah sie, dass er den Blick der Frau erwiderte, ehe er sich entschuldigte und wegging. Kurz darauf war auch die Frau verschwunden. Sie maß dem keine große Bedeutung bei, nahm an, dass er von Gefühlen überwältigt worden war, da seine Frau vor einigen Monaten gestorben war. Einige Wochen später erhielt sie eine Karte aus Dover, mit Urlaubsgrüßen von Aivaras – nur mit Urlaubsgrüßen, ohne große Worte.
Vor einigen hatten sie schließlich in Aivaras‘ Garten gegrillt und er hatte Lara seiner Nichte vorgestellt. Auch Marius, ihre Jugendliebe, war für einen kurzen Besuch gekommen. Als sie später am Seeufer saßen, erzählte sie Marius die Geschichte von Aivaras und Lara, fragte, ob er ihre Begleitung zu deren Hochzeit sein wollte.
Mittlerweile hatte Marius sich zu ihr gesellt, gerade rechtzeitig, um die letzte Phase des Sonnenaufganges zu sehen.
© Cornelia Hell 2025-04-28