Blick in die Zukunft

Beate-Luise

von Beate-Luise

Story

Mai 2020. Die Erdbeerzeit hat begonnen. Doch wer soll die Früchte in dieser Zeit der Pandemie ernten, wenn die Erntehelfer aus Südosteuropa nicht kommen dürfen oder wollen? Die lokale Landwirtschaft steht vor Problemen.

Meinen Kindern fällt zu Hause nach Wochen des Social Distancing, ohne Uni und Schule, oft die Decke auf den Kopf. Für meinen Sohn (15) stünde normalerweise ein dreiwöchiges Schulpraktikum an. Seine Schwester (22) musste die nach ihrem Bachelorstudium geplante Reise durch Südamerika abbrechen und nach Hamburg zurückkehren. Ein Praktikum in London kann sie wegen Corona wohl knicken. Also die Krise als Chance sehen. Ab zur Erdbeerernte! Natürlich sind sie nicht amused über den Vorschlag. Doch immerhin würden sie Geld verdienen. Trotzdem – Erdbeeren pflücken? Sie rümpfen die Näschen. Überreden sodann einen Freund und eine Freundin zum Mitkommen und sind schließlich einverstanden.

Sie erreichen ein Dorf in the middle of nowhere. Dort werden ihnen Schlafcontainer mit je vier Doppelstockbetten zugewiesen. Getrennt nach Geschlechtern. WLAN gibt es nur für zwei Stunden am Abend. Es ist kühl, vielleicht wird es regnen. Erleichtert stellen sie fest, dass die meisten der schon eingetroffenen Erntehelfer ihr Alter haben: Abiturienten, die das geplante Auslandsjahr abgeblasen haben, sowie Schüler und Studenten.

Unerwartet erhalten sie eine längere Einweisung. „Erdbeeren pflücken kann doch jeder! Hab ich ja bei Oma auch immer gemacht“, flüstern sie missmutig. Aber es ist wichtig, die Früchte direkt hinter dem Blatt abzudrehen, ohne Druckstellen, wo sie sonst sofort faulen würden. Doch nicht ganz so einfach. Am nächsten Tag geht es aufs Feld. Das Wetter spielt mit, es ist warm, nicht zu heiß. Die stundenlange, gebückte Haltung geht voll auf den Rücken. Am Abend sind alle so kaputt, dass keiner mehr die Kraft hat, über das harte Bett zu motzen. Das Essen ist okay, die Sanitäranlagen sind einfach, aber sauber. Alle schlafen wie Babys. Einige trotzdem erst spät…

Beim Frühstück spricht sich herum, dass in einem Mädchen-Container die halbe Nacht Geschichten erzählt wurden. Reihum. Ganz gleich, ob erfunden, erlebt oder nacherzählt. „Es wurde immer spannender, als wir damit angefangen hatten und ganz `drin´ waren“, morst meine Tochter auf Whatsapp.

Beim Pflücken überlegen sich die meisten nun Tag für Tag eine Geschichte, die sie abends erzählen wollen.

Tagelang höre ich nichts mehr aus dem Erdbeercamp. No news – good news? Nach einer Woche lese ich beglückt, dass das mit den Geschichten nun in allen Containern Abend für Abend durch die Decke geht. Niemand ist vor dem Einschlafen ausschließlich am Smartphone. Alle lauschen lieber den Erzählungen. Manchmal sogar interaktiv, wenn die Zuhörer mit Zwischenrufen die Handlung lenken wollen. Häufig ist Gelächter durch die Klappfenster zu hören.

Am Rand der Erdbeerfelder leuchten abends Lagerfeuer. Erzählen wie bei Boccaccio zur Zeit der Pest in Florenz.

© Beate-Luise 2020-03-24

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