Blind. Die Irrenden

Robin M. Reisenauer

von Robin M. Reisenauer

Story

„Sie wollen keinen Ausweg!“

Er erschrak. Die Stimme kam von direkt neben ihm. Sie klang so vertraut – sein Genosse. Der, von dem er gedacht hatte, er sei außer ihm der einzige Gefangene. Sein Gesicht konnte er nicht sehen, es lag im Schatten.

„Wer bist du?“, fragte er. Sein Gegenüber grinste. Soviel konnte er sehen. Er trat aus dem Schatten hervor. Seine Augen waren grün. Grün wie ein kühler Strom. Die einzige Farbe, die in diesem elenden Loch noch zu sehen war. Der Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich bin du!“

Verheißungsvoll wandte er den Kopf zu dem schmalen Ausgang, zu dem weißen Kreis. „Ich bin nur schon etwas weiter als du. Aber du hast mich schon bald eingeholt.“

Verdutzt blickte er den Mann an. Weiter … womit? Er konnte noch nicht ganz klar denken, gleichwohl er schon deutlich besser sehen konnte. „Wieso wollen sie keinen Ausweg?“

Der Mann deutete mit dem Kopf in Richtung der Decke, wo sich nach wie vor elektrische Blitze entluden. Von einem dünnen Seil hing ein dunkles, quaderförmiges Gerät, ein Lautsprecher, dessen Vorderseite nach unten zeigte. Kurz nachdem der nächste Blitz zwei arme Jungen niedergestreckt hatte, bebte der Boden, als der Lautsprecher zu blinken begann.

„Alles ist in Ordnung. Nichts passiert euch. Hier gehört ihr hin!“

Die Stimme klang dünn und metallisch. Künstlich. Nicht ehrlich.

Ein weiterer Blitz, wieder fielen Kinder zu Boden.

„Hier geschieht euch nichts. Ihr seid gut aufgehoben. Vertraut uns!“

Die Schreie derer, die sich in einem letzten Schmerzenszucken im Sand wanden, kamen bei Weitem nicht gegen die metallische Stimme an, die den gesamten Raum ausfüllte.

„Siehst du?“, fragte sein Genosse. „Die wollen keinen Ausweg.“

Doch er wollte nicht, dass es so weiterging. Er wollte hier hinaus. Doch nicht alleine. Niemand sollte hierbleiben müssen, stur ins Leere laufen und auf sein Ende warten.

„Wenn sie den Ausweg sehen könnten …“

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Sie können nicht sehen.“

„Wenn sie die Augen öffnen –“

Der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Wolltest du die Augen öffnen?“.

Er zögerte. Seine Augen hatte er wahrhaftig nicht öffnen wollen. Und nun, da sie weit offen standen, sah er Leid, sah er Verderben. Hoffnung und Licht schienen so weit weg. Und doch in Sichtweite. Dazwischen standen sie, marschierten sie, irrten sie. Tausend Blinde.

© Robin M. Reisenauer 2021-03-15

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