Blonde Locken

Carlotta M

von Carlotta M

Story

Egal wie sehr ich es versuchte, ich konnte ihr Gesicht einfach nicht sehen. Das Schneetreiben war zu heftig und sie sah nicht einmal zu mir herüber. Ich legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr sie herum. Ihr Gesicht. Ängstlich sah sie mich an. Ich sah sie einfach nur an. Ich hatte noch nie zuvor so etwas gesehen. Senkrecht über ihr rechtes Auge verlief eine lange Narbe von der Augenbraue bis hinunter zum Kiefer. Ich war so fasziniert von diesem Anblick. Ich wollte gerade etwas sagen, da drehte sie sich um und rannte weg. Sie verschwand im Schnee. Sie war einfach weg, so als wäre sie nie da gewesen.
Zuhause saß ich alleine am Esstisch und verband mir meine Wunden. Mutter war auf der Arbeit, und Vater war schon seit Monaten nicht mehr Heim gekehrt. Ich war alleine, ich war daran gewöhnt. Wie so oft auch schaltete ich die Mikrowelle an und taute mir eine Tiefkühlpizza auf. Wir hatten keinen Ofen, und die Pizza war meistens noch ganz kalt, aber es war besser als nichts. Ich weiß noch, ich saß am Fenster und ohne bestimmten Grund dachte ich an sie. Das Mädchen mit dem roten Schal. Wer ist sie, wo kam sie sehr, wo waren ihre Eltern? Draußen herrschte Chaos. Menschen rutschten auf den zugeschneiten Straßen aus, Autos schlitterten langsam um die Kurven. „Ob sie einen warmen Ort zum Schlafen hat?“ Achilles sprang mir auf den Schoß und sah mich freudig an. Ich streichelte durch sein weiches Fell. Achilles rollte sich zusammen und heulte. „Du spürst es auch, oder?“ Achilles wedelte mit dem Schwanz und sah zu mir hinauf. Irgendwie fühlte sich dieser Winteranfang anders an als alle zuvor. „Darling, bist du da?“, rief Mutter laut durchs Haus als sie eintrat. „Hier“, rief ich zurück, ohne aufzustehen. Mit geröteten Wangen stand sie vor mir und lächelte mich an. Sie bemerkte die ganzen Kratzer in meinem Gesicht und fiel erschrocken vor mir auf die Knie. Achilles schreckte hoch und rannte davon. Ich vermisste ihn sofort. Ich mochte es nicht, wenn Mutter mich so ansah. Sie war traurig, und ich wollte sie nicht traurig sehen. „Wer war das?“ fragte sie und strich mir die Haare aus der Stirn. Ich sagte nichts, sie wusste es auch so. „Waren das die Jungs aus der Schule? Wegen deiner Augen?“ sie verzog ihre schmalen Lippen zu einem traurigen Lächeln. „Ist nicht schlimm“, sagte ich. Sie strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön Darling, Mama liebt dich“ und in dem Moment als sie das gesagt hatte, taten mir die Wunden zum ersten Mal weh. Tränen kullerten mir übers Gesicht. Mutter lächelte „Du musst nicht stark sein, es ist in Ordnung zu weinen“ sie nahm mich in den Arm. Sie roch nach Alkohol und Qualm. So roch sie immer, wenn sie von der Arbeit kam.
„Wie wäre es, wenn Mama dir eine heiße Schokolade macht?“, fragte sie. Ich sah sie an. Wir hatten gar keine Milch mehr. „Wir haben keine Milch mehr“, sagte ich leise. „Na na“ sie grinste und zog aus ihrer Tasche eine große Tüte Milch. „Ich habe doch heute mein Gehalt bekommen“ sie zog mich hoch und wir setzten uns an den Tisch in der Küche. Mutter machte die beste heiße Schokolade. Sie zog sich ihre High Heels aus und warf ihren Blazer über den Stuhl.




© Carlotta M 2023-05-09

Genres
Science Fiction & Fantasy