von Philipp Walden
„Na los, brich ihn endlich!“, sagt der Meister.
„Meine Hand…“, erwidert Shou.
„Was ist damit? Das bisschen Blut? Willst du den Fels nun zerbrechen oder nicht?!“
„Ich will. Ich will ihn zerbrechen!“
„Dann beweise es!“
Shou holt aus, wenngleich seine Hand zittert und blutet. Mit verzogener Miene zieht er vermehrt Luft durch seine Nase auf und schlägt zu. Doch der Fels bleibt unversehrt. Seine Hand aber bricht. Er stößt einen Schrei aus und fällt zu Boden auf die Knie. Dort verbleibt er, winselnd.
„Was ist?“, fragt der Meister.
„Es schmerzt“, sagt Shou.
„Hast du denn gar nichts gelernt?“
„Tut mir leid.“
„Sorge dich nicht darum, deine Leistung zu bedauern. Sei besser.“ Der Meister wendet sich von Shou ab. „Wir machen morgen weiter.“
Shou rafft sich auf und geht auf sein Zimmer, wo er seine Hand in eine Schüssel Wasser legt und innehält. Sie schmerzt, enorm. Er trocknet sie ab, verbindet sie vorsichtig, aber stramm mit einem Tuch, sodass er nicht in Versuchung gerät, sie bedeutend zu bewegen, und legt sich schlafen. Die Nacht bringt ihm lebhafte Träume – er findet sich in ihnen in einem Wald aus Bambus wieder. Eine grelle Sonne spendet Tageslicht, wobei ihr Licht keineswegs warm ist, sondern kalt. Und der Schatten des Bambus wirkt nicht kühlend, sondern wärmt. Dort, wo der Wald endet und Shou aus dem warmen Schatten ins kalte Tageslicht tritt, stößt er auf eine schmale Brücke. Sie führt über einen Fluss, der gleichzeitig aufwärts und abwärts fließt, trotzdem ist er nicht still. Auf der anderen Seite der Brücke bemerkt Shou eine tosende Unruhe. Die Erde bebt und zittert, der Wind heult kreuz und quer. Vor ihm – weit über die Brücke und die dahinter liegende Ebene hinaus, an deren Ende sich der Fluss zu einem Kreis vereint – erspäht er einen erbitterten Kampf. Es messen sich Kräfte aus Schwarz und Weiß, ineinandergeschlungen, voneinander gerissen. Und so wild diese Mächte miteinander ringen, lassen sie keinen Fleck unberührt. Sie kommen Shou gefährlich nahe, der nach hinten ausweicht, einknickt und auf seinen Ellenbogen zu Boden fällt. Er richtet sich hastig wieder auf, doch es ist nichts mehr da, vor dem zu flüchten wäre. Es ist still, leer. Nur ein klaffender Spalt im Erdreich – dort, wo Shou hinfiel – ist übrig. Als Shou am Morgen aufwacht, schmerzt ihn seine Hand nach wie vor. Dennoch erwartet ihn ein weiterer Versuch, den Fels zu zerbrechen. Er steht auf, begibt sich zum Hof, saust am Meister vorbei, reißt sich den Verband ab und versenkt seine Faust mit Wucht im Stein. Der Fels bricht entzwei. Shou betrachtet seine Hand – sie pulsiert und blutet. Er fühlt ihn, den Schmerz. Er nimmt ihn wahr, als ein Phänomen der Gegenwart, und lässt sich darauf ein, ohne es auszublenden, ohne es zu bewerten. So, wie es ihm der Meister beibrachte. Shou bleibt still. Sein Arm hängt schlapp, Blut tropft von ihm auf die Fliesen hinab. Er betrachtet stumm den gespaltenen Fels vor sich.
„Gut gemacht“, lobt ihn der Meister. „Gut gemacht, Xuè Shou.“
© Philipp Walden 2022-06-02