von Hanna-L
Seit Edith denken konnte, hatte sie in diesem Haus gelebt. Ehrfurcht sprach aus ihren bergseeblauen Augen, die die Wand mit den fein säuberlich eingerahmten Fotos im Eingangsbereich hochkletterten. Vom ersten Spatenstich 1856 dokumentierten sie alles und jeden der im Haus Wainer gelebt hatte. Beim Anblick ihrer Vorfahren, die dieses Haus erbaut hatten und als Kaufleute zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen waren, fühlte Edith sich immer klein. Ironischerweise waren es ihre Eltern gewesen, die ihr eingebläut hatten, dass eine Wainer sich niemals vor niemanden zu verneigen hatte. Nicht mal vor der eigenen Familie. Wie von selbst nahm Edith bei diesem Gedanken eine noch aufrechtere Haltung an, wie ein Soldat beim Morgenappell. Nur dass sie keinem Kommandanten, sondern ihrer toten Familie gegenüberstand. Doch da bestand im Wesentlichen kein Unterschied, zumindest, soweit sie das beurteilen konnte. Als ihr Blick sich wieder senkte, blieb er wie so oft an dem einzigen gemalten Bild hängen. Ein Aquarell, das den so fröhlich lächelnden Mann, der den Spaten auf dem ältesten Foto in den Grund stieß, nah und geradezu stoisch zeigte. Ein Schauer lief Edith über den Rücken. Adam Wainer … Wenn das Aquarell nicht log, hatte sie ihre hellen Augen wohl von ihm. Die Bilder waren zwar oft unscharf und von weiter weg aufgenommen, so dass die Gesichter nicht ganz zu erkennen waren, doch die Ähnlichkeit, die Adam Wainer mit einigen seiner Nachfahren teilte, war geradezu gespenstisch. Niemand in der Familie, selbst sie hätte es nicht zugegeben an so etwas zu glauben, doch in jeder Generation seit Adam hatte es einen Jungen gegeben, der zu seinem Ebenbild geworden war. Es war nicht nur die Erscheinung der Männer, die sich eigentlich hätte über die Jahre ändern müssen. Sie hatten denselben Blick, dasselbe einnehmende Lächeln, von dem man gegen seinen Willen in dessen Bann gezogen wurde, dieselbe Körperhaltung. Noch vor ein paar Monaten hatte Edith angenommen, sie wäre die letzte ihrer Familie gewesen und sie war damit im Reinen gewesen. Dann hatte es geklingelt und er stand vor der Tür. Das Ebenbild von Adam, das auf den Namen Richard gehört hatte. Die Wainers hatten schon lange den Kontakt zum zweiten Zweig ihrer Familie abgebrochen und Edith hatte nur selten von ihnen gehört. Sie waren regelrecht totgeschwiegen worden und alles, was sie wusste, war, dass ein Streit in zweiter Generation, die das Haus bewohnt hatte, der Auslöser gewesen war. Zunächst hatte Edith gezögert ihn hineinzulassen, doch ihr war keine plausible Ausrede eingefallen, ihrem Cousin den Zutritt zu verwehren, der eine Reise von mehreren Tagen hinter sich gehabt haben musste. Auch er hatte keine Familie mehr und war wohl einfach auf der Suche nach Anschluss gewesen. Allein vor der Tür hatte er beinahe zerbrechlich gewirkt. Innerhalb weniger Tage hatte sich das zu ändern begonnen. Richard hatte begonnen, sich um den Garten zu kümmern, den Edith sträflich vernachlässigt hatte. Er hatte ein Kräuterbeet angelegt, zeigte ihr, dass Unkraut nicht gleich Unkraut war und brachte ihr so manchen botanischen Namen bei. Der Garten blühte auf, das Haus schien begonnen zu haben zu atmen. Nie hatte sich Edith lebendiger gefühlt als in diesem einen Sommer, in dem sie mit Richard durch ihren Garten streifte und sie über ihre Familie witzelten, als wären sie noch Kinder. Jung. Naiv. Unschuldig.
© Hanna-L 2023-07-19