von RiHa
Meinen Vater plagte zeitlebens eine starke Darmgasbildung. In seinem Berufsleben, er arbeitete auf einem Schiff unter Männern, war das kein Ding. Ursache waren Divertikel. Das sind Darmausstülpungen, in denen sich Nahrungsbrei sammelt und gärt.
Zu Hause führte der Umgang mit den (un)gewollten Fürzen und die jeweilige individuelle Wahrnehmung von Klang und Geruch derselben zu kuriosen Gesprächen. So war mein Vater schon in geistig gesunden Zeiten der Meinung, dass seine Fürze im Gegensatz zu Mutters und meinen, nicht stinken. Außerdem klängen sie auch sehr viel schöner. Kein Wunder, sein zarter Zwetschkenhintern produziere höchstens ein kurzes, liebliches „Phüh“. Während Mamas und mein, sagen wir mal, rubensschön voluminös geformte Hintern, ebenso voluminöse „Bolobolobbolobs“ verursachen. Was soll man darauf antworten?
Heute gast er immer noch. Die Frequenz hat sich erhöht. Die Lust daran ebenso. Jedes vorwurfsvolle „PAPA!“ wird mit einem gespielt schuldbewusstem „Tschuldigung, aber i muss. I kau nix dafür! Außerdem meine stinken eh net.“ beantwortet und er grinst dabei verschmitzt von einem Ohr zum anderen. Ein Schelm, der behauptet, mein Vater wüsste in diesen Momenten nicht, was er sagt und tut.
Diese Geschichte notierte ich 2016. Mein Vater starb nur zwei Jahre später. 2011 erhielt Papa offiziell die Diagnose Demenz. Seine spitzbübische Einstellung zu Fürzen, würde noch sehr nützlich werden.
Es gab eine Zeit, in der mein Vater sein kognitiver Verfall ganz bewusst war. Das war die traurigste Zeit. Man wird als Angehöriger manchmal von Außenstehenden gefragt, was am schlimmsten wäre. Ob es der Moment wäre, in dem man nicht mehr erkannt würde? In meinem Fall, war das Schlimmste, Papas Gesichtsausdruck, als ihm bewusst wurde, dass er ein irrtümlich durchgeschnittenes Kabel nicht mehr reparieren konnte. Etwas, das er früher in einer Minute erledigte.
Dieser Moment, in dem die Angst zur Gewissheit wurde, dieser hilflose, tieftraurige, hoffnungslose Blick, brannte sich tief in mein Herz. Als Papa klar wurde, dass sich das Schreckgespenst Demenz nicht mehr verjagen ließe, wurde er depressiv.
Irgendwann erfuhr er die sogenannte Gnade des Vergessens. Von da an lebte er in einer anderen Welt und Zeit. Die Stimmung besserte sich ein wenig. Trotzdem gab es Momente, in denen die tiefe Traurigkeit wieder aufblitzte. Nicht immer war klar, was sie verursachte und manchmal war es schwer, Vater aus seiner Melancholie herauszuholen.
Eines Tages hatte ich die Idee, ihn abzulenken. Ich behauptete: „Puh, Papa, da stinkt’s! Hast du einen fahren lassen?” Papa, eben noch weinerlich, begann plötzlich von einem Ohr zum anderen zu grinsen. „I wor des net! Nana!”, verteidigte er sich laut und kräftig. Dann rieb er sich die Hände und kicherte „Hihihi”. Der Kummer war vergessen.
Auf diese Weise konnte ich ihn noch mehrere Male trösten. Unglaublich, aber wahr.
© RiHa 2020-08-25