von Lenny Hahn
Beruhig dich. Hatte dieser Satz jemals in der Geschichte der Menschheit dazu geführt, dass irgendjemand sich beruhigt hatte? Bei mir bewirkte es eher, dass ich ihm noch mehr in sein dummes Gesicht schlagen wollte. Ich spürte das vertraute Kribbeln in meinen Händen, das sich anfühlte wie tausend kleine Stromschläge. Es würde nicht mehr lange dauern und mein ganzer Körper würde unter Strom stehen. Ich wusste genau, wie ich dieses Kribbeln wieder loswerden würde. Indem ich ihm wehtat. Schon als Kind kannte ich das Kribbeln, ich hatte meiner Mutter einmal gesagt, es fühlt sich an, wie der Schmetterling, der mal auf meinen Arm gekrabbelt war, nur mal tausend. Und schon als Kind hatte ich gemerkt, dass jemandem wehtun nicht die erleichternde Wirkung hatte, die ich mir erhoffte. Wenn ich früher das Kribbeln gespürt hatte, hatte ich meiner Schwester so fest ich konnte an den Haaren gezogen, dann verschwand das Kribbeln. Aber wenn sie dann anfing zu weinen, bereute ich sofort, was ich getan hatte. Es hatte lange gedauert, bis ich verstanden hatte, dass dem Kribbeln nachzugeben und anderen weh zu tun, nicht meine Probleme löste. Noch länger, bis ich es schaffte, die Kontrolle zu behalten und das Kribbeln zu ignorieren. Noch heute fiel es mir oft schwer, nicht die Kontrolle zu verlieren. Ich ballte meine Hände so fest ich konnte zu Fäusten. Öffnete sie wieder. Fäuste machen. Öffnen. Fäuste machen. Öffnen. Das Kribbeln hatte sich ausgebreitet. Mein Bauch fühlte sich an, als hätte jemand wütende Wespen darin angezündet. Meine Kopfhaut juckte so sehr, dass ich mir am liebsten alle Haare vom Kopf reißen würde. Ich unterdrückte den Impuls, mich zu kratzen. Wenigstens etwas, das ich kontrollieren konnte. Er grinste mich immer noch provokant an. Ich spürte rot glühenden Druck in der Brust, in der Lunge, im Hals. Ich wollte ihn anschreien. Ich wollte ihn beleidigen. Ich wollte seinen Kopf gegen die Backsteinwand hinter ihm rammen, wieder und wieder und wieder. Ich muss hier weg. Meine Beine fühlten sich an wie aus Gummi, ich zitterte am ganzen Körper. Langsam drehte ich mich um. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich durch Treibsand waten. Ich kontrollierte jede meiner Bewegungen schon im Ansatz. Die Wut hatte meinen ganzen Körper erfasst, aber noch hatte ich die Kontrolle. Gerade noch so.
Ich hatte es um die Ecke geschafft, blieb erst mal stehen. Mir war so schlecht, wenn ich mich jetzt nicht beruhigte, musste ich kotzen. „FEIGLING“. Ich sah ihn nicht mehr, aber ich hatte es gehört. Das wars. Die Wut hatte die Kontrolle übernommen. Mein ganzer Körper stand in Flammen. Wild lodernd nahmen sie mir die Luft zum Atmen. Alles verschwamm vor meinen Augen zu einem rot-orangenen Schleier. Mein Kopf brannte. Ich konnte nicht mehr denken. Ich fühlte nur noch Hass. In jeder Zelle meines Körpers nur noch Hass. Ich hasse ihn. Ich will ihm weh tun. Ich hasse ihn. Im Rhythmus meiner Schritte pulsierte es in meinem Kopf. Das Pfeifen in meinen Ohren übertönte das hässliche Knacken von Knochen auf Stein, mein Keuchen, das triumphale Knistern der Wut.
Ich starrte auf meine aufgeplatzten Knöchel, die sich vom Einprügeln auf die Backsteinmauer langsam rot färbten. Das Kribbeln hatte endlich aufgehört.
© Lenny Hahn 2023-08-30