von Luisa Greif
Liebe TrÀume,
Mal wieder sitze ich abends vor meinem vielbefahrenen Fenster und denke an euch. Wieder einmal frage ich mich so viele Fragen. Wieder einmal sehe ich mich im kompletten Zwiespalt mit euch stehen.
Wie konntet ihr wissen, wie spÀter alles einmal sein wird? Wo kam euer Vertrauen her? Habt ihr mich nicht auch als kleines, stilles Kind am Wegesrande stehen sehen? Habt ihr damals nicht auch die Schreie gehört? Ihr wart doch auch dabei, als die bösen Worte fielen.
Wie habt ihr es geschafft, euch derart aufzudrĂ€ngen? Ich wollte euch doch so lange nicht haben. Am Anfang vielleicht noch ein bisschen mehr, aber als kleine echte Person dann schlieĂlichâŠDa hatte ich schon lĂ€ngst nicht mehr an euch geglaubt.
Wie konntet ihr euch so sicher sein, dass ich nach dieser turbulenten Zeit wieder zu euch zurĂŒckkehren werde? Ihr seid nie viele gewesen, aber ihr wart kraftvoll und groĂ. FĂŒr mich wart ihr riesig und ein wenig angsteinflöĂend. Mag sein, dass jeder Mensch sein âgroĂâ anders definiert. Mag sein, dass es in Traumangelegenheiten keine Vergleiche gibt.
Wie konntet ihr euch all die Jahre so raffiniert vor mir verstecken? Jetzt wo ich viele von euch gefunden habe, frage ich mich wirklich, wie ich euch so lange nicht sehen konnte. Ihr wart so nah bei mir, habt euch hinter einer feinen Scheibe versteckt. Eine Scheibe namens Zeit. Nur Geduld lieĂ mich durch sie hindurchblicken.
Je mehr ich von dieser Geduld habe, desto mehr erahne ich, wie die TrĂ€ume heiĂen, die ich noch immer nicht gefunden habe. Sie stecken vermutlich immer noch hinter dieser schmalen Scheibe. Zeit. Wo steckt nun also mein Zwiespalt? Ich möchte ihn in diesem Brief offenlegen. Er steckt in der Frage, was mit mir geschehen soll, wenn ich den letzten von euch entdeckt habe. Wo lege ich ihn hin? Oder stelle ich ihn als TrophĂ€e auf? Soll ich ihn einfach in den HausmĂŒll entsorgen, denn wenn der letzte von euch gefunden ist, brauche ich euch dann alle vielleicht nicht mehr?
Werde ich den letzten von euch je finden?
Ein GefĂŒhl sagt mir, dass der Letzte sich besonders hinterlistig versteckt. Um ihn zu finden, muss ich Lebenssteine umdrehen, ZĂ€une und Mauern einreiĂen und vielleicht die eine oder andere Person ganz aus meinem Leben vergessen machen.
Werde ich fĂŒr diese Opfer denn je bereit sein, auf die Suche zu gehen?
Lasse ich mich nicht viel wahrscheinlicher auf meinem Bett der GemĂŒtlichkeit und Einfachheit nieder?
Etwas in mir will nicht, dass ich euch alle finde. Ein paar von euch wollen fĂŒr immer unentdeckt bleiben. Das spĂŒre ich doch.
Was nur, wenn ich euch aus Versehen doch alle finde?
In Liebe und Respekt,
Luisa G.
© Luisa Greif 2023-06-11