von Hannes Stuber
Istanbul, 16. Mai 1975. Liebe Mama!
Es ist wieder einmal schief gegangen. Wie auch beim letztenmal im April, war einer der drei Richter für Freispruch, die beiden anderen aber dagegen. Die nächste Verhandlung ist für den 27. Juni angesetzt. Wieder sechs Wochen Warten, Herumsitzen. Mit einem anderen Anwalt wäre ich schon seit Monaten draußen. Ich kann mich nicht einmal mehr ärgern. Nach siebeneinhalb Monaten Leben in diesem Loch ist einem alles egal. Bei der nächsten Verhandlung werden es schon neun Monate sein. Eine gute Geburt dauert neun Monate, hat der Konsul gesagt.
Im Krankenhaus war ich noch gar nicht. In der Türkei dauert eben alles länger. Wahrscheinlich komme ich aber nächste Woche hin. Briefe könnt ihr aber trotzdem schreiben, sie werden mir hier aufgehoben, bis ich zurück bin. Und vielleicht schicken sie mich auch gar nicht hin. Alles ist möglich.
Vielen Dank für deinen Brief und die Maiglöckchen. Die Illustrierten sind noch nicht angekommen. Wenn du vielleicht ein paar Freunde von mir triffst, richte ihnen bitte aus, dass sie alte Illustrierte schicken sollen. Das ist eine willkommene Abwechslung in dem faden Leben hier. Die erste Zeit war ziemlich schwer für mich. Jetzt habe ich mich eingelebt. Was bleibt einem auch anderes übrig? Wenn man ein halbes Jahr unter schlechten Bedingungen lebt, paßt man sich an und sieht nicht mehr, wie Scheiße es ist.
Ich hoffe nicht, dass ich zu lange da bleiben muss. Die niedrigste Strafe, die es gibt, sind zwanzig Monate. Sollte ich nicht frei kommen, würde ich mich mit dieser Strafe zufrieden geben. Dann hätte ich noch ein Jahr vor mir, aber das geht auch vorbei. Wenn ich mehr bekomme, weil der Staatsanwalt dreißig Jahre verlangt, drehe ich durch. Obwohl wir jetzt einen Fernsehapparat und Radio haben, lebt es sich trotzdem nicht besser. Die türkischen Programme sind halb idiotisch. Zum Kopfweh-Kriegen, wenn man einmal zusieht. Außerdem verstehe ich nichts. Diese Sprache zu hören, ist allein schon eine Qual.
Möchte gerne wissen, wieviel Geld Gerhard überwiesen hat. Es ist nämlich nicht da. Was ich jetzt habe, reicht auf jeden Fall aus, ich wollte bloß für den Fall einer Kaution genug hier haben. Entweder sprechen sie mich beim nächsten Mal frei, ist ja schon die neunte Verhandlung, oder ich bleibe drin. Immer dauert so ein Gericht etwa eine Viertelstunde, dann wird wieder verschoben. Auf meinen Entlastungszeugen warte ich seit einigen Monaten, er kommt aber nicht. Es gibt in der Türkei keine Pflicht für einen Zeugen, vor Gericht zu erscheinen. Er muss schon wollen.
Ich hoffe, dass es euch allen gut geht und ihr alle gesund seid und meine kleinen Brüder ihre Prüfungen geschafft haben und du dir nicht allzu viele Sorgen machst. Einen Trost habe ich ja, nämlich dass das Ganze irgendwann einmal vorbei ist, und ich dann rauskomme. Wenn ich diesen Muttertag auch vergessen habe, den nächsten werde ich bestimmt nicht vergessen, egal ob ich frei bin oder nicht.
Viele herzliche Grüße!
© Hannes Stuber 2021-12-21