Brief von Napoleon

Aulona Demolli

von Aulona Demolli

Story

In einer unruhigen Sommernacht sitzt die verträumte Anita mit einer heißen Tasse Pfefferminztee auf dem Balkon. Ein Wirbel aus Gedanken, die sie nicht aussprechen kann, plagen sie wieder. Diese angenehme Stille der Nacht ohne Zeugen auf den Straßen wäre die perfekte Gelegenheit, jemandem ihre unzähligen Gedanken anzuvertrauen – doch wem? Wie bedauerlich, dass sie nicht in einer Zeit lebt, in der heimliche Balkongespräche und geheimnisvolle Briefwechsel noch üblich waren. Eine Zeit, in der junge Männer sich unauffällig in Gärten schlichen, um nur ein paar Worte mit der Dame zu wechseln, die sie verehrten, und dabei das Risiko in Kauf nahmen, von einem Familienmitglied des Hauses erwischt zu werden. Körperliche Zärtlichkeiten kamen gar nicht erst in Frage. In einer Zeit, in der man noch Briefe tauschte, in der leidenschaftliche, poetische Zeilen der Dame gewidmet wurden, die der Absender in stiller Verehrung anhimmelte. Solche Widmungen ließen eine Frau sich wie eine Prinzessin fühlen. Anita stellt sich einen dieser Verehrer vor, wie er ihr unten aus dem Garten zuflüstert, dass er einen weiten Weg zurückgelegt hat, nur um zu erfahren, wie es seiner Teuersten ergeht. Seine Körperhaltung zeugt von einem Mann, der stets bereit ist, seiner zukünftigen Gattin zu dienen. Von hier oben erzählt sie ihm von ihren Gedanken, die sie den ganzen Tag beschäftigt haben, und die frische Nachtluft überbringt ihr seine Wärme. Während die Welt um sie herum im Schlaf versinkt, fühlen sie sich in diesem Augenblick unsterblich. Bevor er sich verabschiedet, verspricht er ihr, einen Brief zu schicken und sie fühlt sich geschmeichelt. So muss sich wohl Josephine gefühlt haben, als Napoleon ihr sogar während seines Italienfeldzuges einen Liebesbrief sandte. „Kein Brief von dir meine reizende Freundin, du hast also liebliche Beschäftigungen, denn du vergisst deinen Ehemann, der inmitten aller Angelegenheiten und äußerster Müdigkeit nur an dich denkt, nur dich begehrt.“ Es sind solche Zeilen, die Mühe, die nächtlichen Gespräche, gewidmete Gesten, die das Leben und insbesondere eine Beziehung wertvoll und einzigartig machen.

Das Läuten des Handys reißt die junge Anita in ihre Gegenwart zurück. Sie holt das Handy aus der Tasche ihres Morgenmantels heraus und sieht, dass sie eine Nachricht bekommen hat. Es ist ihr Freund, der ihr eine kurze Nachricht geschickt hat, in der er erklärt, warum er es die Tage nicht geschafft hatte, sich bei ihr telefonisch zu melden.

© Aulona Demolli 2021-06-01

Genres
Romane & Erzählungen
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