Briefe aus der Flut 1

Sascha Blau

von Sascha Blau

Story

Hier sitze ich nun, nach etwas mehr als 34 Jahren, starre durch die geöffnete Balkontür hinaus und versuche dir endlich zu schreiben. Über den Dächern sieht der Himmel aus wie ein Gemälde gestrichener Grau- und Blautöne und wenn ich mich auf meinem Stuhl ein wenig nach rechts lehne, kann ich gerade noch so einen Streifen Rot am Horizont erkennen. Dort, wo die Sonne eben verschwunden ist, um der Dämmerung das Feld zu überlassen. Ich ahne, wie sehr du davon überzeugt sein musst, ich hätte nie an dich gedacht und dich vergessen wie alle anderen. Mittlerweile überzeugt davon, dass sich niemand um dich schert, sich keiner interessiert wie es dir ergangen ist, für deinen Teil der Geschichte. Nicht wirklich jedenfalls. Tatsächlich muss ich wohl einsehen, dass auch ich, ausgerechnet, nichts gegen diesen Vorwurf, so du ihn denn erhebst, vorzubringen habe. Zwar habe ich im Laufe der Zeit manches Mal an dich gedacht. An uns. Allerdings ist es meistens nicht gut ausgegangen, wenn sich der Schleier, den ich so sorgfältig über meine Erinnerungen gebreitet habe, auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks gelichtet hat. Man kann sich eben an alles gewöhnen und das meiste geflissentlich übersehen. Besonders, wenn der Anblick nicht zu ertragen wäre und weil die Anerkennung eines großen Unrechts womöglich bedeuten würde anzuerkennen, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt und sich das schmerzlich Vermisste nicht, wie insgeheim erhofft, doch noch mit der nächsten Suche auffinden wird. Mit Erinnerungen scheint es sich aber ähnlich zu verhalten wie mit Licht oder Wasser. Sobald sich irgendwo ein Spalt auftut, scheint es hindurch, bricht es sich Bahn, wenn nicht sofort, dann mit der Zeit. Und je tiefer die Dunkelheit war, desto greller erscheint es den empfindlichen Augen. Je länger es sich staute, desto größer die Woge, die selbst das Fundament der dicksten Mauern unterspült und mit sich reisst. Als wir noch im gleichen Alter waren und uns so nah, dass kein Blatt zwischen uns passte, war ich noch zu jung um verstehen zu können wie man Trost spendet und jemanden auffängt, der verloren ist. Zu unbeholfen, um es trotzdem zu versuchen, obwohl es manchmal gerade der Versuch ist, der zählt. Es gab wohl auch niemanden der es mir hätte erklären können, selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, die richtigen Fragen zu formulieren. Doch als ich alt genug war, war es zu spät. Da war mir bereits diese Haut gewachsen, eiskalt und hart wie Beton, die sich, wie ein undurchdringbarer Wall, auch zwischen uns gestellt hat. So sehr ich auf diese Haut angewiesen war, so ähnlich sie dem Gefühl einer schützenden Umarmung zu sein schien, so verlässlich sie mich vor jeder Gefahr abgeschirmte, so unmöglich war es gleichzeitig, sie von innen zu überwinden. So streng hielt sie gefangen, was ihres Schutzes bedurfte. Auch von Innen ist sie kalt gewesen und was versuchte, durch sie hindurch nach draußen zu gelangen, erstarrte augenblicklich zu Eis, sobald es sie berührte. Jahrzehnte hat sie standgehalten, doch irgendetwas muss irgendwann einen Riss hinterlassen haben, eine Stelle bröseligen Putzes, lange genug unbemerkt, um Licht und Wasser unumkehrbar ihre Arbeit verrichten zu lassen. Es hat mich letztendlich mitgerissen und um ein Haar wäre ich blind ertrunken. Zu mächtig sind die Wellen über meinem Kopf zusammengeschlagen, zu tief bin ich gefallen, als sich plötzlich kein Boden mehr unter meinen Füßen erkennen ließ. Aber hier sitze ich nun und schreibe dir endlich.

© Sascha Blau 2024-04-29

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Emotional, Reflektierend, Dark, Reflective