Bücherwurm und Leseratte

EllieSpring

von EllieSpring

Story

Wir waren eine große Community, wir mochten Hunderte, Tausende, Millionen oder sogar Milliarden gewesen sein. Gut zu erkennen an der stets leicht gebeugten Körperhaltung, den Blick nach vorn gerichtet, die Gesichtszüge mal angespannt, mal entspannt, je nachdem. Die Tätigkeit war überall, na ja fast überall möglich, in der U-Bahn, in irgendwelchen Warteräumen, auf einer maroden Bank im Park und natürlich relaxed zu Hause. Hier und überall unterhielt man sich manchmal über das, was gerade vor einem auf den Knien lag. Die Welt blieb draußen, wichtig war, was in den Seiten stand, es beruhigte, faszinierte und war manchmal auch sehr lehrreich, auch furchterregend. Jeder konnte sich seine Vorlieben selbst aussuchen.

Zu dieser Zeit gab es Läden mit Büchern, in denen man stöbern konnte, lesen und Kaffee trinken konnte, ohne irgendetwas kaufen zu wollen. Sogar ausleihen konnte man sich sein Lieblingsbuch – das ist allerdings noch länger her.

Eines Tages wurde unsere Community immer kleiner, immer weniger stöberten in Buchläden. Die Welt hatte einen kleinen viereckigen Bildschirm entdeckt, der aller Interesse weckte. Er flimmerte, zeigte bunte Bilder, informierte und konnte manchmal auch sprechen. Allen waren fasziniert, die Community der Bücherwürmer und Leseratten schrumpfte weiter.

Die Körperhaltung der Liebhaber des kleinen viereckigen Bildschirms war gleich geblieben. Den Kopf leicht nach vorne gebeugt überqueren sie Straßen, quälen sich durch Menschenmassen, trainieren auf Fitnessfahrrädern, versorgen und erziehen ihre Kinder. Diese werden flugs in die Geheimnisse des kleinen viereckigen Bildschirms eingeweiht. Sie müssen nicht mehr rechnen und lesen lernen, auch müssen sie nicht mehr wissen, auf welchem Breitengrad der Äquator liegt. Das erzählt ihnen alles der kleine viereckige Bildschirm. Die Großen und die Kleinen wissen jeden Tag, was sie essen und trinken sollen, was gut und was schlecht für sie ist und was sie am besten denken. Das Leben ist so einfach, wenn ich morgens aufstehe, liegt der Tag wie ein aufgeschlagenes Buch vor mir.

Lange habe ich mich gegen den neuen Trend gesträubt. Ich bin sicher keine diplomierte Leseratte, aber die Anzahl der Werke, die in meinen Regalen verstaubt, ist beachtlich und auch beängstigend. Die Vorstellung, dass ich meinen Nachkommen keine verstaubten Bücher hinterlasse, sondern nur einen kleinen viereckigen Bildschirm samt Zubehör verzaubert und macht mich gleichzeitig panisch. Trotzdem, dem allgemeinen Trend folgend, versuche ich mein Glück, auf den diversen Internetportalen, alles zu verscheuern. Geht nicht, niemand will es. Ich hoffe auf eine baldige Lösung des Problems, das nicht nur in der Beseitigung des Bücherfundus besteht. Sich fügen oder sich verweigern. Sich gänzlich zu verweigern geht nicht, da ich ohne den viereckigen kleinen Bildschirm nicht mehr verreisen kann, keine Bank mehr finde, die mich und mein Geld betreut, so wenig es auch sein mag.

Also füge ich mich, in der Hoffnung, dass ich dann irgendwann im Jenseits spannende, romantische, gruselige Geschichten finde, auf richtigem Papier geschrieben.

© EllieSpring 2024-03-20

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Inspirierend