von Jürgen Artmann
“Wenn Sie einen Espresso Macchiato nicht machen können, ist für mich auch ein normaler Espresso gut”, antwortet er mit gönnerhafter Milde und schnauft dabei mitleidig aus.
Pech, soll er sich seinen Macchiato halt zu Hause machen.
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Ein Fetzen einer Erinnerung. Es muss an einem Mittwochmorgen gewesen sein. Im Sommer, oder an einem Wochenende. Auf jeden Fall an einem Morgen. Im Boulevard de la Marne. Vier Beine ruhen sich aus. Es ist angenehm warm, zudecken nicht nötig. Der Café duftet.
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Ein anderer Fetzen einer Erinnerung. Der Kaffee duftet. Es ist Sonntagmorgen in einer Kurstadt in Mittelhessen. Vorab-Kaffee. Eine Tasse Kaffee vor dem eigentlichen Frühstück. Das ist jahrelanges Ritual. Die Küche ist im Erdgeschoss, man kann nicht einfach rüber laufen zur Kaffeemaschine, man muss sich schon die Treppe hinunter bemühen. Zwei Kaffee, dazu Schwarzbrot, ganz kleine Häppchen, keine ganzen Scheiben. Darauf Roastbeef, darunter Remoulade. Oder was anderes Leckeres, was halt da ist. Lachs?
Der Kaffee duftet.
“Heute ist verkaufsoffener Sonntag. Gehen wir hin …?”
“Wir könnten auch eine Fahrradtour machen …”
“Versohle mir mal den Hintern …”
“Mein Foto-Workshop fällt leider aus. Aber sie hatte sowieso nicht gut erklärt …”
“Was kommt heute im Theater am Park?”
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Band 22 deiner belgischen Comic-Lieblingsserie hast du durch. Eine Geschichte, die als Doppelband angelegt ist. Band 23 hast du schon gekauft. Leider liegt der noch in Strasbourg. Also am Mainufer joggen gehen und das Bett verlassen, oder doch noch einen Kaffee? Einer auf Distanz. Du wählst durch.
“Salut, Aimée, comment vas-tu? T’as bien dormi? Très bien. T’as te déjà preparé une tasse de café. Génial, moi aussi. Oh, je n’ai pas compris … ah oui, bien sûr, avec plaisir …”
Du schaust aus dem Fenster auf die Frankfurter Skyline, starrst am Messeturm vorbei auf die Galeries Lafayette. Wie ist das möglich?
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Du hast keine Erinnerung an das Stadtbild von Birmingham. Nicht mal einen Fetzen.
“Ich könnte jetzt einen Coffee gebrauchen. Schwarz wie meine Seele. Willst du auch einen, Jay?”
“Ich mach schon, Jade. Bleib liegen.”
“Ach, das ist nett. Ich bin erst gegen fünf eingeschlafen. Der Coffee ist in der Blechdose im Hängeschrank in der Küche. Ich zeige dir heute noch die kleine malerische Stadt und die typisch englischen Charity Shops. Das kennt ihr in Deutschland gar nicht. Man kann da shoppen, meist Second Hand, es gibt auch Coffee and Cakes. Aber ich fahre, ich lasse hier keinen Deutschen ans Steuer. Wann geht dein Flieger heute Nachmittag?”
“Hast du noch Filter? Nein, okay, dann mach ich Mokka. Schadet heute nicht. Wie fandest du meinen Besuch?”
“Zehn von zehn.”
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Kaffee riecht nicht immer gleich. Er mischt sich mit anderen Gerüchen und vor allem mit Erinnerungen. Erinnerungen an Menschen. In Aimées französischer Wohnung riecht es manchmal nach Ingwer und Kimchi. …→ #3/3
© Jürgen Artmann 2022-05-29