Carmen schickt einen Engel

Lilie

von Lilie

Story
Innsbruck 2023

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Schräg gegenüber erkannte ich die ältere Dame, die mir vor einigen Wochen ihre Carmen-Geschichte erzählt hatte. Sie freute sich mich wiederzusehen und setzte sich auf den freien Platz neben mir. „Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meiner Geschichte vom Zufall letztes Mal nicht auf die Nerven gegangen bin. Aber wissen Sie, jetzt bin ich mir sicher, ich habe die Antwort bekommen.“ Natürlich wollte ich mehr wissen. Die ältere Dame begann zu erzählen:

„Meine Liechtensteiner Freundin hatte mich Mitte Mai zu sich eingeladen. Die Fahrt von Wien nach Feldkirch dauert planmäßig nur gute 6 Stunden, das war meinem ramponierten Gestell zuzumuten. Mittags, bei der Abfahrt, wurden zwei Railjets zusammengehängt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meinen reservierten Sitzplatz erreichte und nach Diskussionen mit einem jungen Mann, der sich dort breit gemacht hatte, endlich die Fahrt genießen konnte. Bei jedem Halt kam die Durchsage, Passagiere ohne gültige Sitzplatzreservierung müssten den Zug verlassen. Mit über einer Stunde Verspätung erreichten wir Innsbruck.

Der Zug blieb lange stehen. Plötzlich kamen sämtliche Passagiere aus dem zweiten, dem angehängten, Railjet in unseren Teil nach vorne. Der rückwärtige Teil fahre nicht weiter, sie müssten in den vorderen umsteigen. Dicht gedrängt standen sie in den Waggons. Dann eine neue Durchsage: „Bitte alles aussteigen, dieser Zug endet hier.“ Hunderte von Menschen standen wartend auf dem Bahnsteig. Kein Ersatzzug weit und breit. Keine weiteren Informationen. Mein Rücken tat weh, ich war müde, die Wasserflasche leer. Mit dem Schienenersatzverkehr würde es frühestens Mitternacht werden bis zur Ankunft in Feldkirch.

Ich beobachtete die Mitreisenden, Familien mit Kindern taten mir besonders leid. Hinter mir stand eine blonde Dame um die fünfzig, elegant gekleidet, mit wunderschönen und ausdrucksstarken hellblauen Augen. Unwillkürlich musste ich ihr zulächeln. Ruhig zog sie ihr Handy heraus, fragte ein Taxi nach dem Preis für die Fahrt nach Feldkirch. Ich sah sie groß an. Sie fragte mich schnell, ob ich mitmachen würde und nannte den Preis. Beschämt gestand ich ihr, dass ich nur Pensionistin sei. Alle Hoffnung sank. Sie lachte nur und sagte: „Ich fahre sowieso, und Sie nehme ich mit.“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. Welch erhebendes Gefühl, den überfüllten Bahnsteig zu verlassen und in die bequemen Ledersitze des Taxis zu sinken.

Ich kämpfte mit den Tränen, denn plötzlich sah ich ganz deutlich Carmen vor mir. Gerührt erzählte ich der schönen Dame von Carmens Versprechen, mir eine Belohnung zu schicken. Ja, diese Frau, die zufällig auf dem Bahnsteig hinter mir stand, das war für mich Carmens Belohnung. Mein Engel mit den hellblauen Augen lachte erneut: Natürlich glaube sie an sowas! Das Taxi brachte uns sicher und bequem bis nach Feldkirch. Voller Dankbarkeit verabschiedete ich mich von der großzügigen Dame und versprach, Carmens Belohnung an sie weiterzuschicken.

Was meinen Sie, war es dieses Mal auch ein Zufall, Fügung oder einfach nur Glück?“ Noch ehe ich antworten konnte, war die ältere Dame ausgestiegen.

© Lilie 2023-06-08

Genres
Reise, Spiritualität
Stimmung
Emotional, Inspirierend, Mysteriös