von Sonja M. Winkler
Es ist immer wieder erstaunlich, dass Menschen ein und dieselbe Situation ganz unterschiedlich wahrnehmen und abspeichern. Jeder Austausch mit Geschwistern fördert Details aus der Vergangenheit zutage, die dem einen oder anderen entgangen sind. Auch bei Maturatreffen nach 30, 40 Jahren werden Erinnerungen ausgegraben, und so manche Erinnerung der anderen hilft meinem Langzeitgedächtnis auf die Sprünge.
Viele Sätze beginnen mit: Weißt du noch …
Weißt du noch, sagt die Bruch Brigitte und sieht mich an, wie du tagelang die Unterschrift meines Vaters geübt hast, bis sie vom Original nicht mehr zu unterscheiden war? Tatsächlich habe ich einmal in meinem Leben, es war in der 7. Klasse Gymnasium, eine Unterschrift gefälscht und anstelle von Brigittes Vater ein Nicht genügend in Mathematik unterschrieben. Sie sagt, ich hätte ihr das Leben gerettet. Ich halte das für etwas übertrieben. Ich ersparte ihr vielleicht einige Sanktionen, unter denen sie gelitten hätte.
Siegi P, die noch immer das Herz auf der Zunge trägt, meint: Bevor mich eine von euch fragt, sag ich euch gleich, ich muss mich rasieren. Seit dem Wechsel wächst mir ein Bart. Deshalb das dicke Make-up.
Bei jedem Klassentreffen erzählt sie dieselbe Geschichte. Sie hätte immer schon gewusst, dass ich später irgendwas mit Sprachen machen würde, denn ich hätte in der 3. Klasse laut und vernehmlich „scarecrow“ hinausgerufen, als sie einen Lesetext nacherzählen musste und plötzlich stockte: I don’t know the word for “Vogelscheuche”. Offensichtlich verblüffte ich die Klasse immer wieder mit so seltsamen Vokabeln. Ich kann mich daran nicht erinnern.
Ich war nie Klassensprecherin, aber im Maturajahr tat ich häufig das, was in den Verantwortungsbereich der Klassensprecherinnen gefallen wäre. Red‘ mit ihr, bedrängte mich die Klasse. Dir glaubt sie, die Stefflbauer.
Wir hatten sie 8 Jahre in Deutsch und Englisch. Sie betrat den Klassenraum, wir standen zum Gruße auf. Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Alle setzten sich, nur ich blieb stehen. Frau Professor, sagte ich, wir waren alle mit der Hausausgabe überfordert. Es ging um Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“.
Ich habe lange von der Stefflbauer Albträume gehabt. Nicht nur ich. Sie hat uns bis zum Schluss gequält mit Kant, Schlegel, Fichte und Hölderlins Oden. Ich sage nur „asklepiadeisch“.
Ganz anders, der liebe Faber. In Latein, so behaupten einige, hätte der Faber seine Erklärungen oft nur an mich gerichtet, weil das Ausgraben von indogermanischen Wurzeln sonst niemanden interessierte. Ich jedoch hing an seinen Lippen. Ich erinnere mich, als er „carpere“ (carpe diem!) an die Tafel schrieb, daneben die erschlossene Form *kerp- „pflücken“, und mit ein bisschen Hokuspokus, sprich: 1. Lautverschiebung, zauberte er „Herbst“ und „harvest“ an die Tafel. Ich war baff und wusste, diesen Hokuspokus werde ich mir auch aneignen.
Und das habe ich.
© Sonja M. Winkler 2020-04-28