Cavit kann warten

Araldo Campana

von Araldo Campana

Story

Nachdem der Arzt die Wurzelbehandlung des Zahnes Nummer 48 abgeschlossen hatte, verschloss er ihn mit einer provisorischen Füllung namens Cavit. Google spuckt gleich aus, dass das Wort ein türkischer Männervorname sei und so viel wie “ewig” bedeute. Haha, von ewig keine Spur, denn am gleichen Abend hatte sich ein Teil des Cavit verabschiedet und suchte sich nun einen Weg durch meinen Verdauungstrakt.

Jetzt hieß es also wieder links kauen oder besser gar nichts kauen. Freitagabend, nur ein Zahnarztnotdienst war am Wochenende von 9 bis 11 erreichbar. Naja, der nächste Tag sollte zeigen, ob ein Notdienst notwendig wäre oder nicht.

Kurz nach neun Uhr trat ich am Sonntag durch die Glastür eines Hauses zu einem mir unbekannten Arzt. Gegenüber eine Tür mit der Aufschrift “Wartezimmer”. Ich klopfte, trat ein, und schreckte kurz zurück. Also wie ein Wartezimmer sah dieser Raum nicht aus, vielmehr erinnerte er mich an eine lieblose Abstellkammer mit Möbelversatzstücken aus den Achtzigerjahren.

Niemand da. Am Ende eines links abgehenden Ganges sah ich Licht und ich hörte gedämpfte Stimmen, dann das leidlich bekannte Surren eines Bohrers. Ich setzte mich auf einen der Stühle und sah mich um. Vor mir standen mehrere Kartons auf dem Boden. Einer trug die Aufschrift KN95, aha, Atemschutzmasken. Auf einem Regal fand sich allerlei Ramsch.

Eine Tür mit der Aufschrift “PRIVAT” stand halb offen. Ich lugte hinein. Auf einem Küchentisch stand eine Kaffeetasse, über einen Wohnzimmerstuhl waren abgelegte Kleidungsstücke geworfen, aus einem Radio tönte Gute-Laune-Musik à la “Resi i hol die mit dem Traktor o”. In einer Aschenbechereinkerbung steckte eine erkaltete Zigarettenkippe.

Ich saß bereits eine Viertelstunde in der Warteabstellkammer und las am Smartphone storyone Geschichten. Plötzlich erschien am Ende des Ganges ein blondes Mannsweib, das schnellen Schrittes den Gang entlang auf mich zu kam. Der Brünhild folgte ein Mann mit geschwollener Backe, vor seiner Brust hing ein grüner Spritzschutz. “Haben Sie sich schon angemeldet?”, warf sie mir fast vorwurfsvoll entgegen. “Bitte? Angemeldet? Wo? Ich sitze hier schon die längste Zeit und es ist niemand da!”, entgegnete ich konsterniert. “Draußen rechts!”, kam es barsch zurück.

Vor der Tür stieß ich auf eine Warteschlange von etwa acht Personen, darunter mehrere Kinder. Gleich neben der Eingangsglastür befand sich links eine Tür mit der Aufschrift “Anmeldung”. Die hatte ich beim Hereinkommen übersehen. An allen vorbei gehen und sagen, dass ich schon seit einer Viertelstunde gewartet hatte, das schien mir mit Blick auf die Kinder undenkbar. Also stellte ich mich in die Schlange, nur kurz. Wenig später saß ich im Auto und fühlte mich unter diesen Umständen geheilt. Cavit konnte bis morgen warten.

© Araldo Campana 2021-09-08

Hashtags