von Daniela Pichler
Dada hat heute ihre erste indische Geschichte mit mir geteilt. Sie zog nur wenige Monate vor dem Tsunami nach Südindien. Sie ist sich bis heute nicht sicher, ob es der Tsunami war, der sie das Land verlassen ließ, oder Indien selbst.
Denn Indien war für Dada eine gewaltige Herausforderung, seine Menschen, seine Kultur, das Land an sich. Sie hatte sich immer als offene Weltbürgerin gefühlt, aber Indien zeigte ihr eine Grenze in Bezug auf soziale und kulturelle Limits auf. Dada versuchte das Land so anzunehmen, wie es war, und sich auf dessen Schönheiten, die Farben, die Menschen, Gewürze und Gerüche zu konzentrieren. Aber zu viel lag im Argen, zu schlimm die Armut, zu offensichtlich die Diskriminierung der Frauen und schwächer gestellter sozialer Gruppen.
Dann schlug der Tsunami zu, Sterben und Verzweiflung überall, eine Schwere, die lähmend war. Dada wurde beauftragt den Tod von Hunderten von Menschen zu dokumentieren, die an der Küste von Kerala lebten. Bei brütender Hitze filmte sie tote Körper, hunderte Leichen, nach nur wenigen Stunden in bereits verwesendem Zustand. Meistens Fischer und noch öfter ihre Frauen. Denn Frauen sind in Indien diejenigen Familienmitglieder, die zu Hause bleiben müssen, ans Haus gefesselt leben oder vor sich hinvegetieren. Sie dürfen nicht lernen, wie man schwimmt oder läuft oder Fahrrad fährt, sondern nur wie man auf Kinder und ältere Menschen aufpasst und für sie sorgt – in jenen Hütten am Strand, die der Tsunami allesamt mit sich riss.
Niemals hatte Dada soviel Trauer und Entsetzen gesehen wie kurz nach Weihnachten 2004.
Alles in Indien war eine Herausforderung gewesen, für Dada war es ein schwerer, oft belastender Ort, eine echte Last in vielerlei Hinsicht, aber sie hatte nie damit gerechnet, eine der schlimmsten Naturkatastrophen der Menschheit aus nächster Nähe mitzuerleben.
Sie liebte Indien, aber sie musste sich lösen, konnte nicht bleiben, da Indien sie gleichzeitig erdrückte. Es war eine ungesunde Beziehung und genau wie bei der Beziehung zu einer Person ist es manchmal besser, ein Ende herbeizuführen, wenn man die schlimmen Seiten der Anderen nicht länger ignorieren kann. Es tut weh, die Entscheidung zu treffen, kann unglaublich hart sein.
Dada ließ viel zurück, aber sie wusste, es war für sie gesünder und fruchtbarer. Sie beschloss, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, besser zu werden, zu wachsen und Neues zu entwickeln. Die Challenge Indien lehrte Dada abzuschliessen, neu anzufangen und weiterzugehen. Als sie durch die Schranke zur Grenzkontrolle ging, rief ihr die Grenzbeamtin mit fröhlicher Stimme einen Satz hinterher. Dada traute ihren Ohren nicht und drehte sich um. Doch tatsächlich, die Polizistin wiederholte laut denselben Satz: „Auf zu neuen Anfängen!“
© Daniela Pichler 2020-07-28