von Günter Zimmel
Wir alle sind uns trotz unserer Diskrepanzen sehr ähnlich. Erst recht, wenn es darum geht, sich Situationen zu merken oder Situationen zu vergessen. Bei dieser Geschichte bekomme ich heute immer noch einen Kloß im Hals, obwohl ich mich nur noch sehr dunkel an alles erinnern kann. Aber das, was ich weiß, macht mich immer noch traurig.
1987 hab ich alle Zelte in Kärnten abgebrochen und bin nach Stuttgart. Wie und warum erzähle ich euch ein andermal. Schon als kleiner Rotzer wollte ich immer Koch werden. Ich hab auch eine Kochlehre begonnen, aber auf Anraten eines Arztes hab ich das dann gelassen. Hier in der BRD war mir das aber alles total egal. Deswegen habe ich die Stelle als Beilagenkoch im damals teuersten Steakrestaurant Stuttgarts- im Churrasco- angenommen. Die Arbeit war für mich eine Erfüllung. Die Kollegen sehr sympathisch und Steaks essen bis zum Abwinken. Leute, ihr könnt das nicht nachvollziehen, wenn ihr es nicht selbst erlebt habt, aber nach drei Wochen konnte ich kein Fleisch mehr sehen! Schon gar kein argentinisches! Aber eine echt tolle Zeit.
Eine meiner Arbeitskolleginnen was Chantal aus Brüssel. Eine recht kleine, vollschlanke junge Dame mit einem Pagenschnitt. Jedes Mal, wenn ich sie sehen durfte, ging mir das Herz auf. Wie soll ich das beschreiben? Stellt euch eine 100 Jahre alte Puppe vor. Mit Pausbäckchen und Pagenfrisur. Immer gut gelaunt, immer ein Lächeln im Gesicht. Niemals hätte ich diese Frau berühren wollen und damit das, was wir hatten, zu zerstören. Niemals haben wir uns geküsst oder uns liebliche Worte zugeflüstert. Und doch: Ich habe diese Frau geliebt auf eine Art, wie man einen Menschen lieben sollte, der für einen etwas ganz Besonderes ist. Und wenn sie begonnen hat, mit mir Französisch zu sprechen, bin ich zerronnen, wie ein Eiswürfel in der Sahara.
Da gab es noch einen Barmann aus Bulgarien. Seinen Namen kenne ich heute nicht mehr. Möchte ich heute auch nicht mehr. Der hat offensichtlich mehr über Chantal gewusst, als ich. Unter anderem, dass Chantal schwer drogenabhängig war. Heroinsüchtig. Und warum auch immer; Chantal hat sich auf diesen Drecksack eingelassen. Er hat es- sicher mit einer Leichtigkeit- geschafft, sie wieder abhängig zu machen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern passiert, dass ich Chantal das erste Mal sah, mit Drogen vollgepumpt bis unter den Scheitel. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke. Und plötzlich waren beide verschwunden! Keiner hat gewusst, wohin. Ich habe sie in ganz Stuttgart gesucht. Durch einen Verwandten des Bulgaren habe ich erfahren, dass sich die beiden nach Italien abgesetzt hatten. Und da verliert sich die Spur zu „meiner“ Chantal.
Damals habe ich mir eines fest vorgenommen: Sollte ich jemals Vater einer Tochter werden, dann möchte ich, dass mein Kind zum Andenken an meine Arbeitskollegin ihren Namen bekommt. Meine Tochter Chantal ist heute 20 Jahre jung und mein ganzer Stolz. Und sehr oft denke ich immer noch an Stuttgart…
© Günter Zimmel 2020-08-27