von Theodor Leonhard
„Wenn Du sterbsch, muss mer dei Goch extra totschlage!“ („Wenn Du einmal stirbst, dann muss man Dein extrem vorlautes Mundwerk extra ins Jenseits befördern!“) So hatte ihre Mutter schon zu ihrer Tochter Friedel gesagt, als diese noch ein Kind war und niemals damit aufhörte, ununterbrochen zu plappern. Jetzt war Frieda Müller eine alte Frau, die wunderbar erzählen und die ganze Straße oder die ganze Bäckerei unterhalten konnte. Dabei kam immer wieder ihr Humor zum Vorschein. Es war toll zu erleben, wie jemand so viel reden konnte, ohne zu tratschen. Meine Nachbarin Friedel wohnte um die Ecke im Hölderlinweg.
Es gab eine zweite noch ältere Frieda Müller im Ort, die in der Panoramastraße lebte. Diese noch ältere Frau starb eines Tages. In unserer Gemeinde, in der ich als Pfarrer arbeitete, gab es im sog. „Gemeindebrief“ eine Rubrik „Freud und Leid“. Da wurden u.a. die Namen der verstorbenen Gemeindemitglieder aufgeführt. Das war eine durchaus sinnvolle Erinnerung.
Unsere Sekretärin gab in die Vorlage den Namen „Frieda Müller“ ein. Der Straßennamen wurde automatisch ergänzt, seit es Computer gab. Eine durchaus sinnvolle Hilfe, konnte man sich doch so die manchmal „aufwändige“ Suche nach der Adresse ersparen. Zum ersten Mal kam es im Zeitalter der neuen Geräte vor, dass jemand gestorben war, die exakt denselben Namen hatte, wie eine noch lebende Person. Wie sollte der Computer mit dieser Herausforderung umgehen? Er tat, was sein Programm ihm vorgab und setzte automatisch den Straßennamen ein, dessen erster Buchstabe im Alphabet weiter vorne stand.
Wir waren in unserer Dienstbesprechung glücklich, als wir die obersten Exemplare der etwa 3000 gedruckten Gemeindebriefe aus der Verpackung holten und es genossen, unsere wieder einmal gelungene Broschüre zu lesen. Bis … ja bis ich unter „Freud und Leid“ den Namen „Frieda Müller, Hölderlinweg“ …
„Das ist doch nicht möglich!“, rief ich regelrecht entsetzt aus. „Mit meiner Nachbarin Friedel habe ich vor zwei Stunden noch Witze erzählt. Die ist quietschfidel, und wie! Morgen bin ich bei ihr zum Kaffee eingeladen.“
Wir kratzten unsere dicken schwarzen Filzstifte zusammen, mit denen wir genau den Schriftzug „Frieda Müller, Hölderlinweg“ durchstreichen konnten. 3000 Exemplare, drei Stunden lang. Meiner Nachbarin erzählte ich, was uns passiert war.
Der Gemeindebrief wurde in die Häuser ausgetragen. Die Neugier einiger Leute war geweckt. Mit einem Messer oder einer Schere saßen sie zu Hause, wollten wissen, was oder genauer wer sich hinter dem schwarzen Balken unter „Freud und Leid“ verbarg. Sie kratzten die Farbe ab.
Meine Nachbarin Friedel bekam in den nächsten Tagen einigen Besuch. Sie wurde bei dieser Gelegenheit oder auch sonst im Ort darüber „informiert“, dass sie gestorben wäre. „Ich weiß!“, sagte sie dann. „Awer mei Gosch muss extra totgschlage werre, un des dauert bstimmt noch e Zeitlang!“
© Theodor Leonhard 2023-08-07