Da ist Dschamilja…

Musenzeit

von Musenzeit

Story

Bitte verzeiht mir, Romeo und Julia und all ihr zauberhaften Paare der Weltliteratur, aber ich wurde intensiv liebeswortentführt.

Ich bin mit der „schönsten Liebesgeschichte der Welt“, wie sie von Louis Aragon 1959 euphorisch betitelt wurde, seit Jahren innig verbunden. Die aus dem russischen übersetzte Novelle “Dschamilja” tönt, duftet und schmeckt einfach unvergleichlich köstlich, nach Leben und Liebe!

In poetisch anmutender Sprache entfacht der kirgisische Autor Tschingis Aitmatow auf nur knapp 100 Seiten ein warmes Liebesfeuer, das sich dauerhaft in mich eingebrannt hat.

Ein künstlerisch begabter Jugendlicher, der Zeuge einer verbotenen Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Erwachsenen wird, begegnet mir. Als Ich-Erzähler schenkt er mir den Blick auf die beiden Liebenden in seiner Erinnerungsperspektive. Im Hintergrund tobt die grauenhafte Schreckgestalt des 2. Weltkriegs, die zahllose Männer frisst oder physisch und psychisch verstümmelt zu ihren Familien zurückkehren lässt, während die Höfe und Felder in der kirgisischen Steppe von Frauen, Kindern und Jugendlichen in harter Arbeit bewirtschaftet werden.

Da ist die selbstbewusste Dschamilja, deren Mann an der Front dient und die das tradierte Rollenbild eines kirgisischen Dorfes sprengt. Und dort der stille, verschlossene Frontrückkehrer Danijar, der im Dorf als Sonderling und Außenseiter gilt.

Die sehnenden Herzen von Dschamilja und Danijar finden in zeitlich, menschlich und landschaftlich harscher, unwirtlicher Umgebung zusammen. Inmitten der Alltäglichkeiten des Landlebens tasten sich die beiden so unterschiedlichen Charaktere zueinander, verbinden sich zunächst zögerlich, dann immer leidenschaftlicher. Wort für Wort, Lied für Lied lauschen und öffnen sie sich einander, während sie arbeiten und auf dem Heuwagen sitzen, den sie täglich fahren. Die starke Dschamilja wird sich entscheiden und mit Traditionen brechen.

Lesend schlüpfe ich in den Ich-Erzähler, diesen Maler, der sich kindlich-liebend nach Dschamilja sehnt, die Liebenden voller Verlangen belauscht, zärtlich beschützt und durch diese beiden zu seiner Berufung im Leben findet.

Tschingis Aitmatow (1928-2008) war nicht nur schriftstellerisch, sondern auch politisch aktiv. Nach seiner Beratertätigkeit für Russland unter Gorbatschov lebte er als Botschafter für Kirgisistan in Brüssel. Er engagierte sich für eine Kultur des Friedens und setzte sich für Umweltschutz ein.

Dschamilja und Danijar, diese beiden so kraftvoll Liebenden, haben sich durch Aitmatow in mein Herz gesprochen, gesungen, gemalt und berührt. In Erinnerung an sie möchte ich mich liebevoll erneuern lassen. Wieder und wieder aufbruchsbereit sein, wenn Leben nicht dem Lieben folgt, sondern nur festgefahrene Traditionen unterfüttert. In Zeiten des Zweifels schöpfe ich Kraft aus dem Bild, wie sie sich, liebend vereint, mutig einer ungewissen Zukunft stellen. Danke, Aitmatow.

© Musenzeit 2021-11-27

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