Damals, als alle wegschauten

Melly Schaffenrath

von Melly Schaffenrath

Story

Unsicher stand ich in der großen Pause im Flur der Schule. Mein Klassenvorstand hatte Pausenaufsicht. Er nickte mir freundlich zu.

Was würde passieren, wenn ich das, was ich vorhatte, wirklich tat? Würde ich so mutig sein, und es wirklich tun? Würde mir jemand helfen? Oder würde ich damit alles noch schlimmer machen? Beinahe verließ mich der Mut. Doch mit einem Mal war alles wieder da. Die Erinnerung, diese unbändige Wut…

… Eingekrümmt wie ein Embryo, die Arme schützend vor Brust und Kopf haltend, lag ich am Boden. Angst. Panik. Verzweiflung. Schmerzen. Mein Flehen, begleitet von Schluchzen: „Bitte, bitte, hör auf …“. Aber er machte weiter. Rasend vor Wut stand er über mir. Immer weiter prügelte er auf mich ein. Trat zu. Auf mein Gesäß, meinen Rücken, meine Beine. Diese Schmerzen! Zwischendurch zog er mich an den Haaren hoch in die Senkrechte, nur um besser zutreten zu können. Dann warf er mich wieder zu Boden, trat und schlug weiter. Er hörte nicht auf. Ich schluchzte, zwischendurch stöhnte ich vor Schmerzen auf. Er brüllte immer wieder: „Ich bring dich um, du blöde, nichtsnutzige Sau! Ich bring dich um!“. Diese Worte… Mit einem Mal waren Angst, Panik und Verzweiflung weg, ich spürte den Schmerz nicht mehr. Unfassbarer Zorn entflammte in mir. Unbändige Wut nahm mich in Besitz. Alles in mir schrie: „Bring mich doch um, dann weiß JEDER bescheid! Ich wäre lieber tot, als noch länger in dieser Familie! Tu es! Bring mich um!“. Der Wunsch ging nicht in Erfüllung, obwohl ich mich so sehr danach sehnte…

Ich stand im Flur der Schule. Die Bilder kamen hoch und mit ihnen die unbeschreibliche Wut: Warum hatte er mich nicht umgebracht!? Dieses Trugbild der perfekten Familie! Keiner ahnte, was hinter verschlossenen Türen passierte. Ich wollte, dass jemand – nein – dass ALLE Bescheid wussten. Ich wollte endlich Hilfe! Ich wollte da raus!

Mit dem Zorn kam auch der Mut zurück. Ich sprach den Lehrer an. In einer stillen Ecke setzten wir uns. Ich erzählte, was passiert war. Warum mein Arm eingegipst war. Zeigte ihm meinen blauen Rücken, zog die Hose kurz nach unten, damit er auch meine mit Hämatomen übersähten Beine und mein Gesäß sehen konnte. Erzählte, dass es immer wieder passierte. Schonungslos ehrlich. Erzählte alles, während sich die Tränen einen Weg über meine Wangen bahnten. Er hörte zu. Tröstete. Meinte, er würde mit seinen Kollegen darüber sprechen, und dann müsse man sehen.

Ich hatte es getan. Endlich würde mir jemand helfen! Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass der Lehrer zu mir kam und mir sagte, was man tun würde. Wartete. Tage. Wochen. Nichts passierte.

So viel Mut hatte es mich gekostet, mit dem Lehrer zu sprechen. Es war so eine Überwindung gewesen. Ich hatte so sehr auf Hilfe gehofft. Alles umsonst. Niemand half mir. Den Erwachsenen war es egal, was mit mir passierte. Sie schauten einfach weg. Ich würde es immer wieder ertragen müssen. Nun fühlte ich mich noch einsamer und hilfloser als vorher.

Foto: Unsplash, Alexander Krivitskiy

© Melly Schaffenrath 2020-10-28