von Marie Doberstein
Mein einziger Freund war der Wind, der durch die morschen Wände geisterte und mir Nachts vorsang. Die Käfer und Würmer, die bei mir wohnten, zählte ich nicht mit, da ich sie ja aß. Daher war es für mich eine natürliche Wendung des Schicksals, als ich das verstaubte Zauberbuch durchblätterte, das ich vor einer Woche unter einer morschen Diele entdeckt hatte. Es musste von dem Zauberer stammen, der mich vor sechs Jahren hier eingesperrt hatte und ein Mal im Jahr vorbeischaute, um mir zehn Lebensjahre zu entziehen. Jetzt war ich dreizehn und ich wusste nicht, wie lange ich noch leben würde.
Einen tödlichen Dämon zu beschwören war also eine Idee, die nicht gerade dumm war und definitiv ausgeprägter Recherche und Überlegung entsprang. Und da ich eben in einer verlassenen Kirche lebte, hatte ich rein zufällig alles hier, um mir einen Freund zu beschwören, der wirkliche Worte sprach. Wie als hätte der Wind meine Gedanken gehört, blies er mir das Haar aus dem Gesicht. „Das ist wirklich nichts gegen dich, aber du bist schon ziemlich eintönig.“, flüsterte ich ihm zu, als er die dunkelroten Kerzen zum Flackern brachte, die ich mühsam angezündet hatte.
Ich machte es mir in meinem Schneidersitz gemütlich und platzierte das alte Buch zwischen meinen Knien. Mein tiefer Atemzug duftete nach Weihrauch und dem angezündeten Salbei aus dem Kirchengarten. Nach einem Räuspern begann ich die Worte aufzusagen, die in schnörkeliger Schrift geschrieben standen. Ich schloss meine Augen bei dem letzten Wort der Sprache, die ich nicht verstand. Ich wartete, aber nichts geschah. Kein Brüllen oder Gestank oder Geschrei. Gar nichts. Enttäuscht öffnete ich die Augen. Im nächsten Moment sprang ich auf. In dem Kreis aus Kerzen saß ein Dämon. Mit Haut aus schwarzem Leder und einem länglichen Pferdegesicht. Sein Körper sah aus, als wären nur seine Knochen mit Haut überzogen, so schlaksig sah er aus. Die pechschwarzen Augen, die Pupillenlos waren, funkelten vor Wut. „Wie kannst du es wagen, mich zu beschwören, kleines Mädchen.“ Er war nicht so gruselig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Seine Stimme war kratzig und rau, aber nicht brutal. „Dafür, dass du nicht willst, dass man dich beschwört, war es aber ziemlich einfach.“ Er schnaubte fast menschlich, bevor er die Arme verschränkte und sich umsah. Sein Ausdruck war seltsam, als wäre er Gebäude nicht gewöhnt. „Ist das eine Kirche?“
„Ja, ist es. Und du bist mein neuer bester Freund. Mein Name ist Ava. Freut mich dich kennenzulernen.“ Wie selbstverständlich hielt ich ihm meine blasse Hand hin, die er musterte, als wäre ich verrückt. Ich würde mich persönlich nicht verrückt nennen. Einsam, war die Bezeichnung, die ich mir selbst geben würde. Seine Haut war kalt und feucht, als er meine Hand ergriff und sie schüttelte. „Ich hoffe, dass ich dich nicht von einer Familie oder so entrissen habe. Wenn du zurück willst, ist das kein Problem. Ich finde einen anderen Dämon, der mein Freund sein will.“
In dem Buch gab es mindestens noch sieben weitere. Er war nur der Erste gewesen. Der Dämon musterte mich vorsichtig, bevor er mit den Schultern zuckte.
„Gut, meinetwegen, Ava. Lass uns Freunde sein.“
© Marie Doberstein 2023-08-07