Darf es Pflegepersonen ekeln?

Proud-to-be-a-Nurse

von Proud-to-be-a-Nurse

Story

Frau Bauer, gehbeeinträchtigt und in einer beginnenden Demenz, schaffte es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette. Als ich ihr Zimmer betrete, um ihr Medikamente zu bringen, schlägt mir unvermutet ein durchdringender Geruch entgegen. Im Zimmer stoße ich auf eine, vom Bett bis zur Toilette führende Spur aus flüssigem Stuhl.

Die Glocke von Zimmer 3 läutet. Als ich die Türe öffne, winkt Frau Kugler, den Mund fest zusammengekniffen, hektisch in meine Richtung. Ich ahne warum, hetze zu dem kleinen Tisch mit den Pflegeutensilien, schnappe mir die Nierentasse aus Karton, dazu etwas Zellstoff. Gerade als ich die beiden Dinge Frau Kugler reichen will, dreht diese ihren Kopf in meine Richtung. Schwallartig ergießt sich warmes Erbrochenes auf meine Füße.

Beide Frauen schauen mich in der Situation peinlich berührt an. Dann stellen sie mit weinerlicher Stimme die Frage: „Ekelt es Sie, Schwester?“

Stünde ich noch am Anfang meiner Pflegekarriere, müsste ich jetzt entrüstet jeden Ekel von mir weisen. Damals, in den 80er Jahren, meinten die Altvorderen eine Krankenschwester hätte sich einfach nicht zu ekeln. Ich hätte freundlich lächeln und sagen müssen: „Nein, ich bin Krankenschwester, mich ekelt doch vor nichts.“

Heute wird das Thema Ekelgefühle in der Pflege zum Glück differenzierter gesehen.

Charles Darwin meinte Ekel wäre ein universeller Instinkt, bereits beim Säuglingen vorhanden, unabhängig davon, wo das Baby auf die Welt kommt. Die moderne Wissenschaft dagegen denkt Ekel ist das Ergebnis von Sozialisation und zudem kulturell geprägt. Wir lernen also, wovor uns zu grausen hat. Deshalb ekelt die meisten Europäer vor gebratenen Mehlwürmern, während diese unter Asiaten als Delikatesse gelten.

Daher: Klar ekelt auch Pflegepersonen! Aber durch die Ausbildung, eine Form von Sozialisation, lernen Pflegekräfte mit Ekelgefühlen umzugehen. Das nennt man dann Professionalität. Trotzdem bleiben wir auch Mensch und daher klappt das mit der Professionalität nicht immer gleich.

In jungen Jahren bin ich durchaus einige Male im Laufschritt aus Zimmern gestürzt, um mich heimlich in der Spüle zu übergeben. Ich bin doch kein Roboter!

Heute gibt es eine einzige Tätigkeit, die ich nicht ausführen kann. Sputum ausleeren. Als Sputum bezeichnet man den Schleim aus Luftröhre und Bronchien, den man manchmal bei Menschen absaugen muss. Er wird dann in Behältern aufgefangen und genau die müssen ab und zu entleert werden. Kann ich nicht! Alleine die Vorstellung! Brrrrrr!

Zurück zu den beiden Patientinnen vom Beginn der Geschichte und der Frage „Ekelt es sie jetzt, Schwester“. Da ich sicher bin, dass Patienten uns durchschauen und die Lüge hinter der Antwort „Nein, mich ekelt nicht, ich bin ja Krankenschwester“ erkennen würden, pflege ich in diesen Situationen zu sagen: „Natürlich ekelt mich, aber ich habe gelernt damit umzugehen. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Sonja S., diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin

© Proud-to-be-a-Nurse 2019-04-11

Hashtags