von Lara Moritz
Ich habe die Nacht ĂĽberstanden. Und irgendwie bin ich da stolz drauf. Hier sind es die kleinen Dinge, auf die wir stolz sein sollen. Irgendwie komme ich mir manchmal so bescheuert vor, weil man gelobt wird, wenn man es nur geschafft hat, sich die Zähne zu putzen. Aber wenn ich so drĂĽber nachdenke, wird mir erst bewusst, wie viel Kraft die kleinen Dinge mich so lange gekostet haben. Das Essen. Das Schlafen. Das Aufstehen. Das Leben. Alles ist hier drin ein Kampf. In der Therapie lernen wir, uns ein Schwert zu bauen. Und gerade, da denke ich, dass es sich lohnt zu kämpfen. Ich habe den ersten Schock von gestern ĂĽberwunden. Angefreundet habe ich mich mit dem Gedanken, ins Heim zu mĂĽssen zwar noch nicht, aber Dr.Schwarz meinte, dass wir eins nach dem andern angehen. Heute ist Sonntag. Und Sonntag, das heiĂźt Besuchstag. Bei den meisten, da kommen die Eltern. Auf meine Eltern hatte ich nicht gewartet, und sie kamen natĂĽrlich auch nicht. Aber meine beste Freundin kam und das hat mich ĂĽberrascht. Ich frage mich oft, warum sie sich nicht einfach jemand anderen als Freundin gesucht hat, als es mir schlechter ging. Ich meine, sie konnte mit mir nichts mehr anfangen, musste immer nur fĂĽr mich da sein und ich war nie mehr fĂĽr sie da. Aber sie ist geblieben und ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dafĂĽr bin. Wie geht es dir? Die Frage war so ehrlich gestellt. Es war kein so smalltalkmäßiges „wie geht es dir“, sondern ein richtiges. Es ist hier immer ein bisschen GlĂĽckspiel wie es einem geht. Wir mĂĽssen beide schmunzeln, während ich das sage und ich glaube, sie war genauso ĂĽberrascht, wie ich, dass nicht mein typisches „Ganz gut“ als Antwort kam. Und heute habe ich im GlĂĽcksspiel gewonnen, denn du bist da. Wie geht es dir denn? Und da erzählte sie von zu Hause, von der Schule, von den Lehrern und Klassenkameraden, von alten Geschichten, die wir zusammen erlebt haben und all dem Mist, den wir gebaut haben, als wir jĂĽnger waren. Und als sie ging, da hatte ich wirklich das GefĂĽhl, ein StĂĽck zu Hause wĂĽrde mich verlassen. Aber eins merke ich, wenn wir miteinander reden: Ich lebe hier in einer Blase. GeschĂĽtzt vor allen UmwelteinflĂĽssen und StĂĽrmen, isoliert von allem und jedem, fast ein bisschen isoliert vom Leben selbst. Und ehrlich gesagt, habe ich fast ein bisschen Angst, dass ich gar nicht mehr weiĂź, wie man eigentlich lebt, wenn ich hier rauskomme. Und ich frage mich, ob ich die letzten Jahre ĂĽberhaupt gelebt habe. Ob ich so wirklich richtig gelebt habe, oder eigentlich doch nur ĂĽberlebt. Ob ich nicht nur funktioniert habe und fĂĽr alle gelebt habe, nur nicht fĂĽr mich selbst. Hier drin lebe ich fĂĽr mich selbst. Ich kämpfe fĂĽr mich selbst, das habe ich hier gelernt. Aber ich kämpfe trotzdem nicht alleine. Ich kämpfe mit all den anderen hier fĂĽr jedes Leben, fĂĽr jede scheiĂź Kugel Eis und fĂĽr jedes echte Lächeln. Denn das ist es doch, wofĂĽr wir hier kämpfen. DafĂĽr, dass wir wir sind, dass wir wieder strahlen können, dass wir wieder im Bild lächeln und nicht fĂĽr das Bild. DafĂĽr, dass wir wieder leben.
© Lara Moritz 2023-06-04