6| Mela

Katharina Bartsch

von Katharina Bartsch

Story

Mela hatte sich an die furchtbaren Albträume gewöhnt. Sie fand sich in einem großen Raum wieder, den nur wenige Lampen erleuchteten. Schwere purpurrote Vorhänge verdeckten die Fenster.

Sie rappelte sich auf. Unter ihr lag ein großer Perserteppich. Die Farben und Muster zogen sie in einen eigenartigen Bann. Stimmen zerstreuten ihre Gedanken. Zwei Personen tuschelten miteinander. Ein Wesen auf zwei Beinen, gekleidet wie ein englischer Butler und mit dem Kopf einer Eule, stand ein paar Meter von ihr entfernt. Der Eulenmann beobachtete sie. Sein Gesicht war zum Teil menschlich, doch er hatte einen Schnabel, den er bewegte, um zu sprechen. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Doch sie sah, an wen er das Wort richtete. Der andere Mann saß erhöht auf einem Thron. Auch er betrachtete Mela. Es fiel ihr schwer, ihn einzuordnen. Er war wohl jünger als sie, 30 oder 35 Jahre alt, schätzte sie. Sein Erscheinungsbild erinnerte sie an einen italienischen Geschäftsmann. Vielleicht wegen der Sonnenbrille, die er trotz des dunklen Raums trug. Er war attraktiv, aber es umgab ihn eine Aura aus Arroganz, die sie abstoßend fand.

Die beiden waren verstummt. Eine beunruhigende Stille verbreitete sich. Mela fiel auf, dass der Raum keine Tür zu haben schien. Drei Seiten des Zimmers waren mit dunklem Holz verkleidet. Doch wo war der Ausgang? Ihre Augen huschten von einer Wand zur anderen. Sie fühlte sich benommen, der Schwindel erschwerte ihre Suche. Dann entdeckte sie ihn. Nicht weit entfernt fügte sich eine große Flügeltür perfekt in die restliche Vertäfelung ein. Während sie lief, bemerkte sie, dass sie keine Schuhe anhatte. Doch sie stoppte erst, als sie das kühle Metall in ihrer Hand spürte. Das Rütteln nützte nichts. Die Tür war fest verschlossen.

Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie wehrte sich gegen den Brechreiz, der von einem fauligen Geruch ausgelöst wurde. Sie sank auf den Boden, angelehnt an die verborgene Tür. Ein sonderbarer Traum, schoss es ihr durch den Kopf, vielleicht lasse ich ihn einfach über mich ergehen. Sie bedeckte Mund und Nase mit den Händen, um den Gestank besser ertragen zu können.

„Was für eine enorme Verschwendung meiner Zeit.“ Mela hob den Kopf. Der elegant aussehende Mann war aufgestanden. Er sprach weiter: „Schwach, ganz genau wie alle Menschen. An ihr ist absolut nichts Außergewöhnliches.“ Seine Worte verbreiteten eine eisige Kälte. Mela presste die Lippen zusammen. Alles in ihr verkrampfte sich. Schwach. Schwach. Schwach! „Ich bin NICHT schwach!“, platzte es aus ihr heraus. Sie stand aufrecht, mit geballten Fäusten, und versuchte, Tränen der Wut zu unterdrücken. Sie hatte es satt, sich ständig anhören zu müssen, wie sie angeblich sei. „Und ich bin auch nicht wie alle anderen Menschen.“

© Katharina Bartsch 2022-07-07

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