Das Attest

Bernd Röseler

von Bernd Röseler

Story

Nach 45 war in Berlin, Trümmerfrau zu sein, ehrenwert, verbreitet unbeliebt.

Meine Mutter war eine gütige, ehrliche, gesetzestreue Frau, soweit die Umstände es zuließen. Sie bekam vom Magistrat der Stadt die Aufforderung, sich für den Einsatz an der Ruinenfront zu melden, verbunden mit der Aussicht auf die überlebenswichtige Lebensmittelkarte der Gruppe drei für Frauen in Arbeit.

“Mein Gott, ich muss in die Trümmer”, sagte meine Mutter.

“Frag Otmar”, sagte Schwiegervater.

Otmar war ein windiger, halbseidener Hallodri und entfernter Verwandter. Angeheiratet, wie meine Mutter stets betonte.

Otmar kannte einen, der einen kannte, der einen Arzt kannte. Diese Gefälligkeitskaskade spülte ein Attest in die Hände meiner Mutter, das sie als schwer herzkrank auswies. Eingeschickt, Trümmer ade, Lebensmittelkarte, fertig!

Reinickendorfs (Nordberlin) Amtsarzt war im Dienst unter drei politischen Herrschaftsformen ergraut und misstraute allen seinen Patienten und erst recht ihren Attesten. Er lud zur Untersuchung.

“Mein Gott, ich muss zur Untersuchung”, rief meine Mutter

“Da hilft auch kein Otmar”, sagte Schwiegervater.

Zum Termin im Rathaus ging meine Mutter zu Fuß. Sie merken es, sie überführen mich, ich muss in die Trümmer, die Ruinen, in den Steinbruch, sinnierte sie auf dem Weg wieder und wieder.

Der Amtsarzt, ein Orson-Welles-Typ, einer Wagneroper entsprungen, sah erst auf meine Mutter, dann auf das Attest und brummte:“So, so.“ Er begann die Untersuchung im Rahmen seiner technischen Möglichkeiten. Blutdruck messen, Puls fühlen, Stethoskop ansetzen, vorne und hinten. Alles noch einmal in veränderter Reihenfolge und noch einmal. Schließlich schüttelte er sein Haupt, sah in das bremslichtrote Gesicht meiner Mutter und beschwor sie; „Frau, gehen Sie nach Hause, ganz langsam, immer im Schatten, und dann legen Sie sich hin und ruhen. Das Attest ist ja keine Frage.

Meine Mutter, physisch und psychisch ein Wrack, sank mit weichen Knien auf die Rathausstufen. Schließlich schlich sie auf der Schattenseite der Straße dahin.

Doch allmählich entfaltete sich das Wunder. Der Blutdruck sank, der Puls fand sein Normmaß, das Gesicht die gewohnte frische Farbe. Meine Mutter ging schneller und schneller, wechselte auf die Sonnenseite, hüpfte nach Hause und freute sich auf die Lebensmittelkarte der Gruppe drei für Frauen in Arbeit.

Aus Otmar wurde der liebe Otti.

© Bernd Röseler 2021-03-02

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