Das Band und der Kreis

Lisa Körner-Mißkampf

von Lisa Körner-Mißkampf

Story

Heute ist es endlich soweit. Wie lange habe ich darauf hin gefiebert, eigentlich wir gemeinsam. Meine Schwester und ich. Vereint durch Geburt, ohne Zutun. Wir hatten einfach das Glück zusammen auf dieser Welt zu sein. Und diese Welt ist nicht immer schön, nicht immer einfach. Wir sind schmerzverwandt. So nenne ich das gerne. Es gibt niemanden auf der Welt, mit dem ich in so vielen Situationen im gleichen Boot sitze. Ein Band, das uns verbindet und das ich nicht beschreiben kann.

Diese enge Verbindung, dieses Band, das bringt auch einige unangenehme Aspekte mit sich. Und ich meine hier nicht das Teilen von Spielzeug, Essen, Aufmerksamkeit. Nein. Zum einen ist da dieses unbegrenzte Mitgefühl. Jede Verletzung, jedes Leiden sei es Herzschmerz oder Zukunftsangst, ich bin im Boot. Stress mit Freundinnen oder unserer Mutter, ich bin im Boot. Geldsorgen oder Fehlentscheidungen, ich bin im Boot. Das ist okay, ich fahre gerne Boot.

Wenn da nicht noch was anderes wäre.

Die Angst. Ich bin mein ganzes Leben mit dieser furchtbaren Angst konfrontiert, dass meiner Schwester irgendwann nicht mehr da sein könnte. Und zwar nicht im Sinne von, sie ist woanders. Das wäre auch doof, keine Frage, aber das könnte ich verkrafteten. Angst davor, dass ihr etwas zustoßen könnte. Diese Angst kenne ich vor allem in Bezug auf meine Schwester, aber nicht nur. Es gibt einen sehr sehr kleinen Kreis von Personen um mich herum.

Die Angst, sie ist immer da. Sie geht nicht weg. Auch das nehme ich in Kauf. Denn die schönen Momente voller Verbundenheit wiegen das auf. Und heute ist ganz klar wieder so ein Tag, so ein ganz besonderer Moment.

Ich laufe schnellen Schrittes über unsere Hauptstraße. Es ist ein Sonntagabend im Mai. Die Luft ist warm, die Sonne ist noch nicht untergegangen. Ich habe meine Hände in meiner Hosentasche. Ich weiß nicht genau, was ich sonst damit machen soll.

Über meiner Schulter baumelt ein Jutebeutel. In den Beutel habe ich drei Päckchen gesteckt. Alle sind mit unterschiedlichem Geschenkpapier eingepackt. Geschenke aussuchen macht mir großen Spaß. Schon während ich durch die Geschäfte oder den Online-Shop streife, stelle ich mir vor, wie sich das Gesicht des Beschenkten verändern würde. Anhand dieser vorgestellten Reaktion treffe ich meine Entscheidung. Meistens liege ich damit auch ziemlich richtig.

Jetzt konzentriere ich mich auf meinen Atem, setze einen Schritt vor den anderen. Blicke auf, wenn ein Auto mich überholt. Ich biege in die kleine verkehrsberuhigte Straße ab, ich bin den Weg sicherlich schon 200-Mal gelaufen. Als ich vor der Tür stehe, checke ich noch einmal, ob ich auch wirklich alles habe. Drei Päckchen und eine handgeschriebene Karte. Passt. Einmal atme ich noch tief ein und aus. Ich nehme die Sonnenbrille ab und drücke auf den Klingelknopf. Es dauert einen kleinen Moment, dann öffnet meine Schwester die Tür.

In diesem Moment wird mir bewusst, mein kleiner Kreis ist gerade etwas größer geworden.

© Lisa Körner-Mißkampf 2022-07-17

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