von Lore
Es ist ruhig in der Stadt. Die Sonne ist vor wenigen Minuten aufgegangen und ergießt ihre lauwarmen Frühlingsstrahlen großzügig über die kühlen Dächer. Die Straßen sind leer. Nur wenige Frühaufsteher verlieren sich im Geflecht, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem gedämpften Motorraunen eines Müllautos, das seine letzten Kreise zieht, bevor es die heutige Runde beendet. Irgendwo im Zentrum dieser großen Stadt biegt ein Mann mit Hut und Aktenkoffern um die Ecke und verschwindet schnellen Schrittes in einem U-Bahn-Eingang. In der kleinen Bäckerei gegenüber der U-Bahn-Station werden die letzten Backwaren in die Vitrine geräumt, bevor die Besitzerin die Tür aufschließt, um die ersten Kundinnen und Kunden zu begrüßen. Die kleine graue Katze, die sich hinter einer freundlich dreinblickenden älteren Dame in den Laden schleicht, wird sofort entdeckt und prompt wieder auf die Straße gesetzt. Kaum berühren ihre Pfötchen den grauen Asphalt, windet sie sich elegant um die eigene Achse, maunzt vorwurfsvoll in Richtung Eingangstür und verschwindet dann mit schnellen Trippelschrittchen in einer der Seitenstraßen. Auf dem von Linden gerahmten zweispurigen Boulevard fährt ab und an ein Auto vorbei. Der Berufsverkehr wird frühestens in zwei Stunden so richtig losgehen. Die großzügigen Gehwege, auf denen zwei dicke Shettlandponys bequem nebeneinander hertraben könnten, sind leer. Kiosk, Café, Frisör und Blumenladen sind geschlossen und auch in den oberen Stockwerken der Jugendstilhäuser ist hinter den großen Fenstern noch keinerlei Bewegung zu erkennen.
In der Mitte der Straße, gegenüber des Blumenladens, steht ein blaues Haus. Das einzige blaue Haus des Viertels. Die anderen Häuser sind grau, beige oder weiß gestrichen, aber das in der Mitte der Straße, das gegenüber des Blumenladens, das ist blau. Hellblau, um genau zu sein. Fast so, wie der Himmel an diesem Morgen. Obgleich es nur vier Stockwerke hat, verteilen sich so viele Wohnungen auf das Vorderhaus und die beiden Hinterhäuser des Gebäudes, dass keiner der Bewohner genau weiß, wie viele Personen hier leben. Die meisten Nachbarn sind einander ohnehin nie begegnet oder kennen sich nur von flüchtigen Begrüßungen, die man sich aus Höflichkeit zuwirft, wenn man auf der Treppe oder am Briefkasten aneinander vorbeihuscht. Im Innenhof wächst ein großer Kastanienbaum, in dessen Zweigen sich für gewöhnlich ein dunkelbraunes Eichhörnchen tummelt. Auch an diesem Morgen war das Tierchen wieder zwischen den Blättern unterwegs und wäre vor Schreck fast von seinem Ast gerutscht, als im letzten Stock eines der Fenster schwungvoll und mit einem lauten Knacken aufgerissen wurde.
“Filou! Filouuu! Wo bist du?“. Samira hört die Laute, die ihr Mund eben geformt hatte, in der Luft verhallen. Sie war traurig und sauer zugleich. Bestimmt hat Papa nicht aufgepasst, als er die Wohnung verlassen hat und jetzt ist Filou weg. Jetzt ist ihr kleiner grauer Kater weg.
© Lore 2022-04-23