Das böse Erwachen

Jessica-Aileen Zenzen

von Jessica-Aileen Zenzen

Story
Mittelrheinregion 2018

Beim Aufwachen glaubte ich erst wirklich, dass ich zu Hause in meinem Zimmer sei. Im Bad merkte ich erst wieder, dass ich nun in einer geschlossenen Psychiatrie gefangen war. Nun geisterte dieses eine Lied namens „Love Song“ von Sara Bareilles aus meinem vorigen Traum in meinem Kopf herum. Danach schaute ich mal kurz auf mein Handy, ob sich jemand bei mir gemeldet hat. Niemand. Lediglich einige WhatsApp-Nachrichten meiner Klassenkameraden untereinander, wo über Klassenarbeiten gestritten wurde. Mann, haben die Leute kaum andere Probleme. Ich hingegen habe meine Freiheit ganz verloren. Dazu musste ich die eine Nacht in fremden Klamotten und mit erst in der Nacht wahrgenommenen starken Gelenkschmerzen schlafen. Beim Frühstück gegen 07:30 Uhr bekam ich von meinen zwei Scheiben Brot kaum was runter, weil mir irgendwie so übel war. Dann schaute ich mich mal im Trakt, allen voran heimlich nach Fluchtwegen um. Aber in der geschlossenen Station haben die Pfleger wohl eh alle Türen, die nach draußen führten, vorsorglich verriegelt. Dann entdeckte ich an einer Pinnwand ein Wochenplan mit verschiedenen Terminen und Aktivitäten. Vielleicht kann man zu irgendwelchen Ausgängen wie der Besuch der Klinikkirche heimlich mitgehen und dann spontan flüchten. Aber ich glaubte aus meinem Inneren heraus eh nicht, dass man zeitnah eine Gelegenheit bekomme. Bei einem Fluchtversuch würde man wohl auch viel Ärger bekommen. Also ließ ich das mit dem Aushecken von Fluchtplänen vorerst sein. Nun rissen wie bestellt zwei Pflegerinnen mich aus meinen Gedanken und reichten mir ein Mobiltelefon mit den Worten: „Für Sie, Sie haben gerade einen Anruf von Ihrem Vater.“ Meine Laune erhellte sich von Untergangsstimmung nun auf eine helle Freude. Das Gespräch mit ihm gab mir solch eine Hoffnung, weil ich so jetzt wirklich wusste, dass er noch am Leben war. Er erzählte mir, wie es ihm am Vortag weiter erging vom sehr schmerzhaften Transport mit dem Rettungswagen und der kurze Besuch meiner Mutter bei ihm. Aber ich hielt wohl kämpferisch eine flammende Brandrede über die Hoffnung, dass wir diese Scheiße in der Geschlossenen mit Gottes Hilfe durchstehen werden. Denn drei männlichen Mitpatienten, die mir im Flur gegenübersaßen, lächelten mir zu und nickten freudig bei fast jedem Satz. Nun konnte ich endlich die vorhin vom Schwesternzimmer abgeholten Kleidungsstücke anziehen, die meine Mutter mir am Vorabend brachte. Am selben Morgen bekam ich noch eine Zimmergenossin. Die gleiche ängstliche Frau von gestern. Wir lernten uns kennen, indem wir miteinander über uns sprachen. Sie hieß Maria und war wie ich auch unfreiwillig hierher gelandet. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes sei sie einmal zu Hause bei einem Streit mit Verwandten ausgeflippt und deshalb dahin gebracht worden. Danach gingen wir kurz vor 12:00 Uhr gemeinsam zum Mittagessen. Nachher setzte sich eine weitere Mitpatientin zu uns an den Tisch. Die nur einige Jahre ältere Frau hieß Hanna. An ihren Armen konnte man leider viele rote Kratzer erkennen, was ich noch nie in echt bei einem Menschen gesehen habe. Sie erzählte uns ebenfalls von ihrem Leben. Ich wurde von den beiden Mädels das Küken genannt, da ich aktuell die jüngste Insassin auf der Station war. Nach dem Mittagessen waren wir wieder beschäftigungslos und vertrieben unsere Zeit mit vielen Reden.

© Jessica-Aileen Zenzen 2024-01-14

Genres
Spannung & Horror, Spiritualität
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Angespannt
Hashtags