Das dumme MĂ€dchen und die Leseratte

Joesinlei

von Joesinlei

Story

Das erste Mal, wo ich mit Buchstaben konfrontiert werde, die mehr tun, als nur meinen Namen zu bilden, ist in der ersten Klasse. Weder ich noch meine Eltern haben vor diesem Tag das BedĂŒrfnis dazu gehabt, mir das Lesen beizubringen. Und so kommt es, dass ich konzentriert der Lehrerin lauschen muss, wĂ€hrend dem die BedĂŒrfnissgehabten Übungen machen dĂŒrfen, um ihre bereits vorhandenen FĂ€higkeiten zu trainieren. Eigentlich ist das nicht schlimm, denn ich bin nicht die Einzige, die noch nicht lesen kann. Allerdings haben die anderen nicht so viel MĂŒhe damit wie ich. WĂ€hrend sie schnell vorwĂ€rtskommen, hĂ€nge ich stĂ€ndig fest und bin komplett ĂŒberfordert mit dem neuen Wissen. Dazu kommt noch, dass ich mich stĂ€ndig mit den BedĂŒrfnissgehabten vergleiche und das GefĂŒhl habe, ich mĂŒsste genau so gut sein wie sie.

Mein Scheitern und der Vergleich mit den anderen fĂŒhrt schliesslich dazu, dass ich eines Tages emotional komplett aufgelöst nach Hause renne. Ich knalle die HaustĂŒr so fest zu, dass das ganze Haus zu beben scheint und dann lasse ich alle Emotionen heraus, die sich in mir aufgestaut haben. ICH BIN DUMM, schreie ich, UND ICH WERDE NIE LESEN KÖNNEN. Dann breche ich schluchzend zusammen.

Achtzehn Jahre spĂ€ter sitze ich in meinem Zimmer und schreibe den Text ĂŒber das Buch, welches mein Leben verĂ€ndert hat. Ohne Probleme finden meine Finger die richtigen Tasten auf der Tastatur, obwohl ich mich garnicht auf die Buchstaben konzentriere, sondern auf die Gedanken in meinem Kopf. In ihm befinden sich nicht nur meine aktuellen Gedanken, sondern auch die Erinnerungen an die unzĂ€hligen BĂŒcher, die ich seit der ersten Klasse gelesen habe. Ich war die grösste Leseratte von allen. Und die meisten Geschichten verschwimmen in meinem Kopf und lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Oder sie sind in der Bibliothek meiner Gedanken so weit nach hinten gerutscht, dass ich sie nicht mehr vor mein inneres Auge hohlen kann. Aber ein Buch ist noch ganz klar. Es ist das erste, an das ich mich erinnern kann und ich habe es so oft nochmals gelesen, dass die Welt des Buches fest in meinen Kopf eingemeiselt ist. Sie hat mich von der ersten Seite an gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen. Ich bin zu einem Fan dieser Welt geworden und der ganzen Buchreihe. Es ist nicht das beste Buch, das ich je gelesen habe, und es hat viele Ungereimtheiten. Trotzdem ist diese Buchreihe die einzige, wo ich mich als Fan davon bezeichnen wĂŒrde. Ich habe wahrscheinlich vor diesem Buch noch andere, einfachere BĂŒcher gelesen, aber in meinem Kopf ist dieses Buch trotzdem als Beweis dafĂŒr abgespeichert, dass ich alles schaffen kann, wenn ich nicht aufgebe. Denn durch dieses Buch wurde ich von dem dummen MĂ€dchen, das nicht lesen kann, zu der Leseratte, die ich heute bin. Es begeisterte mich und zeigte mir, dass ich alles schaffe, wenn ich nur will.

Das Buch, von dem ich spreche, ist Harry Potter und der Stein der Weisen von J.K Rowling.

© Joesinlei 2021-11-14

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