von Gernot Candolini
Krebs kann eine besonders lebensfreundliche Diagnose sein, vor allem für Menschen, die ein Alter erreicht haben, bei dem das Ende der Lebenszeit absehbar wird. Zwischen Diagnose und Tod entsteht ein besonderer Zeitraum, der es möglich macht, ganz bewusst auf dieses „bald“ hin zu leben.
Als mein Vater die Diagnose Krebs erhielt, äußerte er einen besonderen Wunsch: Er wollte noch einmal mit mir nach Namibia fahren. Auch meine Tochter und der Sohn meiner Schwester fuhren mit, und wir erlebten zwei besondere Wochen in atemberaubender Landschaft und Natur. Mein Vater war trotz seiner 80 Jahre tagsüber kaum einmal müde. Auf meine Frage, ob er nicht ein Nickerchen machen wolle, erwiderte er meistens: „Ich will lieber schauen.“ Allen war bewusst, auch ihm selbst, dass dies die letzte große Reise seines Leben war.
Bereits wenige Tage nach unserer Rückkehr war klar, dass jeder spätere Zeitpunkt für diese Reise zu spät gewesen wäre. Seine Blase war zugewachsen und seine Nieren arbeiteten nicht mehr gut und nur umfassende medizinische Betreuung ermöglichte ihm noch etwas zusätzliche Lebenszeit. Wir alle waren dankbar, dass diese Reise noch gelungen war und eine so gute und friedliche Erinnerung begründet hat.
Manche Ärzte, meist junge, verfielen in dieser Zeit in Aktionismus und schlugen jede nur denkbare Therapie vor, als gäbe es kein Ende. Und dann gab es Ärzte, meist ältere, die vor einem Eingriff die Familie zusammenriefen und sagten: „Kommen sie und verabschieden sie sich. Es kann sein, dass die Operation nicht gelingt.“
Vor so einem Eingriff standen wir an seinem Krankenbett auf dem Gang vor dem Operationssaal, damit wir uns verabschieden konnten. Wir Söhne hatten unsere Gefühle für unseren Vater kaum jemals ausgesprochen, aber jetzt konnten wir uns noch einmal bei ihm bedanken und ihm sagen, dass er ein guter Vater war. „Ich weiß“, meinte er, „aber es tut gut, es zu hören. Ihr seid ja auch gute Kinder.“
Dann kamen meine Schwester und meine Mutter dazu, und er blickte jeden von uns lange an. Es war ein warmer Blick, der uns so innig festhielt. In seinen Augen lag viel von der Freude und Dankbarkeit, die nicht in Worte fassbar sind. Sein Blick glich einem Segen, einem guten, warmen Segen. Da dachte ich an die Worte „Das Zeitliche segnen“, denn nichts anderes hat mein Vater in diesem Augenblick getan.
Dass er diese Operation gut überstand und danach noch einige Wochen unter uns lebte, ist ein anderer Teil der Geschichte.
© Gernot Candolini 2020-05-23