Das erste Einhorn

Fenja Harbke

von Fenja Harbke

Story

Es war vor vielen, vielen Jahren, als das kleine Mädchen Dorika das erste Mal zauberte. Sie hatte ihrem großen Bruder den Wackelzahn wieder festgehext, weil er damit zu sehr vor ihr angegeben hatten. Ihre Mutter ließ vor Schreck eine Tasse fallen und statt sich um die Scherben zu kümmern, griff sie zum Telefonhörer, um die Tante anzurufen. „Zuzanna! Meine Dorika ist eine Hexe.“
Danach nahm sie Dorika beiseite, streichelte ihr über den Kopf, bis der buschige, rote Schopf geglättet war und erklärte ihr, dass einige Menschen besondere Kräfte besaßen.
Nach dem ganzen Erklären und Erzählen stand Dorika schließlich auf, sage „Ich muss darüber nachdenken.“ und ging hinaus in den Wald.
Eigentlich wollte sie Kuscheltierärztin werden. Hexen trugen immer so komische Hüte und sie lachten unheimlich. „Tihiihiii“, versuchte Dorika sich. Dann dachte sie an ihre Tante, die ganz anders war und trotzdem eine Hexe.
Die kleine Dorika streifte im Wald umher, wie sie es schon oft getan hatte. Sie setzte sich an den kleinen See und sah zu, wie der Wald sich bei Anbruch der Nacht schlafen legte. Normalerweise durfte sie nicht so lange draußen bleiben, aber Dorika beschloss, heute eine Ausnahme zu machen. Wenn sie eine Hexe war, konnte sie schließlich auf sich selbst aufpassen.
Es war wunderbar still um sie herum. Grillen zirpten, Frösche quakten und dann hörte sie eine Stimme.
„Guten Abend, kleine Maid. Was machst du ganz allein im Wald.“
Dorika sah auf und erblickte ein Einhorn. Sie wusste sofort, dass es eines war, sie hatte schon viele Bilder gesehen. Dies hier war allerdings echt.
Als das Mädchen nicht antwortete, legte die schneeweiße Gestalt den Kopf schief, dass die Mähne aufwallte. „Bedrückt dich etwas?“
„Ich kann hexen.“ Es klang wie eine Beschwerde.
„Dann bist du eine Hexe.“
Dorika nickte.
„Aber du möchtest keine sein“, schloss das Einhorn.
Dorika wackelte mit dem Kopf. Das Einhorn schritt näher. „Du musst keine Hexe sein, wenn du nicht willst.“
Jetzt machte die Kleine große Augen. „Muss ich nicht?“
Das Einhorn wieherte oder lachte, so einfach ließ sich das nicht auseinanderhalten.
„Ein Einhorn ist zu dir gekommen, kleine Maid. Wir sind Vorboten von Sehnsucht und Freiheit. Wenn dir ein Leben als Hexe nicht gefällt, dann komm mit mir, in meine Welt.“
Dorika zog die Knie an und bestaunte das glitzernde Horn auf der Stirn des Einhorns. „Und was muss ich dann werden, wenn ich mit dir komme?“
„Das was du willst kann dir niemand stehlen. Sei frei mit mir, ohne Grenzen und Regeln.“
„Aber Mama sagt, Regeln sind wichtig.“ Sie stand auf und klopfte sich Gras und Äste vom Rock.
„Freiheit, kleine Maid, die biete ich dir.“ Das Einhorn schritt näher und neigte den Kopf, sodass Dorika die bebenden Nüstern berühren könnte. Mitkommen. Keine Hexe werden. Gar nichts werden müssen.
„Und nun komme mit mir“, erklang es direkt in Dorikas Kopf, bis sie sich schüttelte.
„Nein!“, rief sie aus, wobei sie mit dem Fuß aufstampfte. „Ich kann hexen, das ist etwas ganz Besonderes, sagt Mama. Ich werde eine Hexe!“
Sie ging und ließ das Einhorn zurück. Und von dem Tage an war Dorika eine Hexe.

© Fenja Harbke 2023-10-10

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Dunkel, Hoffnungsvoll, Mysteriös, Reflektierend
Hashtags