Das Essen

VDegorio

von VDegorio

Story

Einen dünnen Schatten warf ihre Silhouette auf den Gang im Stiegenhaus, der unser neuer Treffpunkt geworden war. Sie beugt sich prüfend hinab, um in das Einkaufssackerl zu lugen, das ich vor der Türe abgestellt hatte.

Aus den uns medial vielfach über die vergangenen Wochen als sicherer Abstand erklärten 2 bis 3 Metern Entfernung suchte ich zu erläutern. „Ganz unten in dem Behälter ist dein Abendessen für heute und morgen. Ich hab dir auch ein paar gefüllte Eier gemacht, es ist ja doch Ostern.“

Wo nach dem Anläuten noch Freude im Gesicht zu sehen war, hatten sich nun deprimierte Züge ihren Weg gebahnt. Mit einem Verständnis suchenden Schulterzucken und erklärender Gestik erwiderte sie: „Ja weißt, das alleine Essen, da schmeckt’s mir halt nicht.“

Vier Wochen pflegten wir nun schon diese neue Gangroutine ohne Kontakt zu den Menschen, die einem am Nächsten sind. Aber wer will denn schon Handlanger eines Virus sein, dieser unsichtbaren Gefahr den Teppich ausrollen, weil man sich für klüger hält als sämtliche Koryphäen des Landes?

Platt entgegnete ich, sie müsse aber nun mal essen, es wäre doch alles eine Frage der Einstellung, sie möge sich doch etwas mehr bemühen. Da stand ich nun in dieser würdelosen Szenerie und hielt der alten Frau noch eine Predigt. Wie schnell doch das eigene Ego zum Empathieverhinderer wird. Man hatte sich den Aufwand gemacht und gekocht, da dürstet man schließlich nach Dankbarkeit und Wohlgefallen.

Bis es mich wieder durchzuckt und ich wünschte, eine bessere Zuhörerin zu sein, wohl wissend, dass es hier nicht um Kritik an meiner Kochkunst ging. Da stand sie, meine Mutter, in den Krieg hineingeboren, die Jugend in der Besatzungszeit zugebracht, selbst drei Kinder großgezogen, den Mann vor Jahren verloren; was sie mir mitteilen wollte ist, dass es ihr schwer fällt, das Alleinsein, schwerer als sonst, wo es wenigstens noch kurze Begegnungen und gemeinsame Stunden zur Abwechslung an den oft unendlich lang erscheinenden Tagen gab.

Sie hält durch, wie es uns allen seit Wochen indoktriniert wird. Tapfer, weitgehend verständnisvoll, vernünftig eben. Ich frage mich, welche Ängste und Gefühle sie wohl des Nächtens einholen, wie Geister aus der Vergangenheit. Die Durchhalteparolen, das Eingesperrtsein, die Ungewissheit, wie es weitergeht.

Die wahre Größe dieser schmächtig anmutenden Figur erschließt sich einem wohl erst in Anbetracht ihrer Zeitgeschichte, die einen ebenso staunen wie erschaudern lässt.

„Wir können ja wieder telefonieren.“ „Ja“, versichere ich „und lass es dir schmecken“. Gütig, mit leichter Verzweiflung nickend winkt sie mir nach, als ich den Gang in meiner ganzen wohlwollenden Fürsorglichkeit verlasse.

© VDegorio 2020-04-14