von Ulrike Sammer
Das fatale „Defizit-Modell“
Die weitverbreitete Vorstellung, der alte Mensch sei generell hilflos, abhängig, inkontinent und dement, prägt nicht nur den Umgang mit Alten in der Öffentlichkeit. Dieses sogenannte „Defizitmodell“, das ausschließlich den Abbau in den Vordergrund rückt, hat eine katastrophale Auswirkung auf das Selbstbild und das Selbstwertgefühl der Älteren. So will niemand enden. Trotzdem wirkt diese Vorstellung manchmal wie eine „self-fulfilling-prophecy“ (der sich selbst erfüllenden Prophezeiung): in der Erwartung der unausweichlichen traurigen Umstände schicken sich manche kampflos in ihr vermeintliches Schicksal, irgendwann als behindert und als unzumutbare Belastung für andere angesehen zu werden. Seitens der jungen Generation baut sich seit einigen Jahren ein immer stärkerer Unmut gegenüber der größer werdenden Anzahl der Älteren auf. (Vor allem weil sie, durch manche Medien geschürt, fälschlich annehmen, dass die Älteren auf Kosten der Jüngeren leben. Das stimmt tatsächlich aber nicht, denn die nun ausgezahlten Pensionen wurden den Älteren zeitlebens von ihrem Lohn abgezogen). Dieses Bild führt natürlich zu einer großen Verunsicherung der Älteren. Fast alle kennen Beispiele, wo unachtsam oder respektlos mit ihren Bedürfnissen und Gewohnheiten umgegangen wird – sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Supermarkt oder in den Amtsstuben. Leider muss man annehmen, dass diese Spannungen und Aggressionen in der Zukunft noch zunehmen werden.
Ein kleines Beispiel gefällig?
Frau Dr. H. verlässt die Uni, an der sie gerade in ihrem beginnenden Ruhestand ein Zweitstudium absolviert. Sie besteigt ihr kleines Auto und fährt gelassen und konzentriert in Richtung ihrer Wohnung. Auf dem „Gürtel“, einer der meistbefahrenen Straßen Wiens, will sich ein offenbar nervöser junger Mann in großer Geschwindigkeit noch vor das Auto von Frau Dr. H. hineinpressen und rammt dabei den Kotflügel ihres Autos. Gleich entsteht ein Stau auf dieser sensiblen Verkehrsader. Ein junger Polizist eilt herbei. Ohne auch nur einen Augenblick nach dem Hergang der Unfalls zu fragen, fährt er Fr.Dr.H. an, dass ihr wohl wegen ihres Alters (62 Jahre) der Führerschein entzogen gehört.
Tatsache ist jedenfalls, dass nur bei 2,7% der 60-jährigen aus unterschiedlichen Gründen ein Pflegebedarf besteht. Selbst bei den 80-jährigen versorgt sich der allergrößte Teil (zumindest der Frauen) alleine, sorgt für sich selbst und will es auch so. Das Defizitmodell ist somit ein typisches Beispiel der Altersdiskriminierung. Wo immer man in der Öffentlichkeit diesen Pauschalurteilen begegnet, sollte man ihnen entgegentreten.
© Ulrike Sammer 2023-06-16