Das Fenster zum Hof

Stella

von Stella

Story

Seinen amputierten rechten Arm sehe ich erst, als ich ihm zum Abschied die Hand entgegenstrecke. Meine Hand hÀngt in der Luft und ich starre verlegen auf seine Unterarmprothese aus hautfarbenem Kunststoff, die bewegungslos auf dem Tisch liegt. Keine Ahnung, was mich aus der Situation rettete. Vermutlich kam mir der Àltere Herr mit seiner linken Hand entgegen, um meine schwebende Rechte aus der Schockstarre zu befreien.

Bis heute ist mir auch unklar, warum der grauhaarige Makler ausgerechnet mir damals die Wohnung gab und mich zur Unterschrift des Mietvertrags hier in sein Haus nach Tegel bestellte. Vielleicht rĂŒhrte ihn meine jugendliche Unbedarftheit oder ich erinnerte ihn an seine Enkelin.

Ich war jedenfalls heilfroh, die 1-Zimmer-Wohnung in Moabit, fußweit vom Ernst-Reuter-Platz und fahrradnah zum Plötzensee ergattert zu haben. Nachdem ich jede Menge Berliner Löcher besichtigt hatte. Wie das in der Mietskaserne mit durchgebrochener Decke in der KĂŒche und dunklen Zimmern zum dĂŒsteren Innenhof, braun gewohnt von Generationen von Vormietern, deren letzte ihr schmutziges rosa Neglige an der TĂŒr hatte hĂ€ngen lassen.

Hier musste ich nur den uringelben Raucher-Firnis von den ehemals weißen Kacheln im Bad schrubben. Und konnte einziehen. Mit meiner dreiteiligen Matratze, die tagsĂŒber als Sofa diente, meinem großen Reisekoffer als Schrank und einem kleinen alten KĂŒchentisch mit zwei StĂŒhlen. Die Fenster zum Innenhof, von wo man das Leben der Nachbarn, wie bei Hitchcocks „Fenster zum Hof“, hautnah mitverfolgen konnte, verhĂ€ngte ich nachts mit TĂŒchern.

GegenĂŒber sah man in das stets geöffnete Fenster des Billardzimmers einer Kneipe. Die gegen Mitternacht ihren MĂŒll im Hof entsorgte. Mit Schwung und lautem Krachen. Direkt unter meinem Fenster lag die Abluft der KĂŒche eines indischen Restaurants. Die Curry-DĂ€mpfe dĂŒnsteten in mein Zimmer.

Der Baucontainer im Hof gab mir RĂ€tsel auf. Bis ich morgens um sieben Uhr davon wach wurde, wie Klos, Fenster und Waschbecken vom zweiten Stock in den Bauschutt geschmissen wurden. Nur die nĂ€chtlichen GerĂ€usche ĂŒber mir in der Wohnung konnte ich mir lange nicht erklĂ€ren. Als wĂŒrde jede Nacht ein schweres MöbelstĂŒck wie ein Klavier durch die Wohnung geschoben.

Also fragte ich den Hausmeister. Ein kleines hageres MĂ€nnchen mit dem rot aufgedunsenen Gesicht eines Trinkers, dessen Körper unentwegt zitterte. Sein winziger SchĂ€del unter dem ĂŒberdimensionalen braunen Lockenschopf wirkte wie ein Schrumpfkopf. Er bat mich in seine Hausmeisterwohnung. Wo er gerade mit seiner Frau in Heimarbeit Garn an Preisschildchen knĂŒpfte, offenbar fĂŒr Kleidung der Haute Couture.

„Der Vormieter ist spurlos verschwunden“, erklĂ€rte er mir zitternd.

„Er vermietet die Wohnung wohl stundenweise.“

So weit ich mich erinnere, tat er das auch ungestört weiter. Bis ich auszog. Nach einem sehr aufregenden, aber auch ziemlich anstrengenden Jahr in Berlin, in dem unter anderem die Mauer fiel.

© Stella 2019-07-05

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