Das Fest der Familie

Philipp Kaul

von Philipp Kaul

Story

Ach wie liebte ich meine Familie und wie mehr liebte ich das Fest der Familie – das Weihnachtsfest. Ich wünschte, jeder Tag im Jahr wäre Weihnachten, denn dann hätte ich jeden Tag die Möglichkeit, meine Eltern, meine Geschwister und Großeltern, meine Cousinen und Cousins, Tantchens und Onkelchens, Paten und Neffen, Großtantchens und Großonkelchens, Großcousinen und Großcousins, Brüder und Schwestern entfernter Grade und auch die alte Nachbarin zu sehen, die jeden Weihnachtsabend mit uns verbrachte, weil sie keine eigene Familie hatte. Doch nun war das heilige Fest, dieser schöne warme Abend, an nur einem Tag, am vierundzwanzigsten Dezember, im Winter, im letzten Monat des Jahres.

Es war nicht wichtig, was wir alle taten, aber jeder von uns war im Jahr stets beschäftigt – auch ich konnte nicht immer nach Hause zurückkehren, musste Tage und Nächte mühsam Heimweh verspürend woanders verbringen. Der Gedanke an meine Familie, an die Freude, Geborgenheit und Glückseligkeit, die sie mir schenkte, gab mir immer ein Fünkchen Hoffnung in meinem doch eher trostlosen und öden Leben. Weihnachten war der Höhepunkt, der Gipfel des Berges.

Unser kleines Häuschen war groß, vier Stockwerke – Keller, Erdgeschoss, erster Stock und ein Dachgeschoss. Die genaue Historie des Anwesens kannte ich nicht, doch sicher waren es die Urahnen von Oma und Opa, die es irgendwann nach Ende des Sezessionskrieges erbaut hatten. Im großen Salon, indem bald das Abendessen stattfand, war bereits der lange Tisch ausgestellt, bedeckt mit dem hochwertigsten Damasttischtuch, und verziert mit feinglitzerndem Porzellan, kristallenen Gläsern für den Schampus und rot strahlenden Blumendekorationen. Der Weihnachtsbaum türmte sich neben dem mit Söckchen bestückten Kamin gegen die Decke, sein Stern erinnerte mich an das Lied vom Stern über Betlehem.

Nun hatten wir uns alle im Salon versammelt. Vater eröffnete das Festessen und es wurde angestoßen. Einer der Onkelchens setzte sich ans Pianino und hämmerte ein sanftes Liedchen des Fests, es wurde gespeist, getrunken, geplaudert, gelacht und gesungen. Die Stimmung konnte nicht weihnachtlicher, nicht schöner werden. Und für nichts in der Welt hätte ich diesen Augenblick getauscht, diesen wunderschönen Moment mit meiner Familie.

Nach dem Essen stellten wir uns für das alljährliche große Familienfoto auf. Die alte Nachbarin fotografierte, so war tatsächlich jedes Familienglied auf dem Foto. Im Zentrum auf Stühlen saßen Oma, Opa und ihre Geschwister, hinter ihnen standen Vater, Mutter und die Tantchens und Onkelchens, die Kinder waren entweder vor den Großeltern gekniet oder standen links und rechts neben den Eltern. Mich konnte man ganz links erkennen, wie ich hinter dem Fenster – draußen in der Eiseskälte – in die Kamera lächelte. Ja, ich war ohne Obdach und das Haus hatte ich nie betreten, aber niemand bemerkte mich je auf dem großen Familienfoto – obwohl meine Familie mich nicht kannte, mich nie gesehen hatte, war sie für mich meine Familie. Sie war die einzige Familie, die ich hatte.

© Philipp Kaul 2023-08-25

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
Hashtags