von Susanne Sommer
Jeder Moment im Leben mit einem jungen Menschen ist eine Geschichte der Begeisterung. Eine davon möchte ich erzĂ€hlen. Mein Sohn war 1,5 Jahre alt, als sich sein Interesse an Tieren zeigte. Damals blĂ€tterte er am liebsten in unserer EnzyklopĂ€die, wollte jeden Trivial- und wissenschaftlichen Namen wissen und kannte bald das gesamte Werk auswendig. Nach unzĂ€hlbaren Besuchen in Zoos und im Naturhistorischen Museum schiffte er sich im prĂ€historischen Hafen der Dinosaurier ein. Mittlerweile 7-jĂ€hrig hat er sich ein wahres Expertenwissen angeeignet. Seine Begeisterung hat mich mitgerissen. Wie der Lavastrom urzeitlicher Vulkane, deren unbĂ€ndige AktivitĂ€t â gepaart mit einem kolossalen Erdenbesucher aus dem All â schlieĂlich auch das Ende der âschrecklichen Echsenâ brachte. Aber ihre Spuren, die sind noch da. Unter anderem in unserem Wohnzimmer. Wörter wie Ornithischier und Saurischier sind hier alltĂ€glich; genau wie Pubis- und Chevronknochen, Gastro- und Koprolithen, KlimaverĂ€nderung, Massenaussterben, Evolutionstheorie. Trias, Jura, Kreide.
Die Dinos waren der AufhĂ€nger. An ihrer Hand manövriert mein Sohn seither zielsicher durch die Meere des Wissens. Geschichte, Biologie, Geografie, PalĂ€ontologie â alles verbindet sich. Mein Sohn holt BĂŒcher und Fachmagazine ins Boot seiner Recherchen. Wir schreiben Briefe an Zoos, Dinoparks und Museen. Unser Haus ist von Knete-, Papp- und Lego-Dinos bevölkert. Zeichnungen stapeln sich. Der Sandbereich im Garten wurde zu âJurassic Parkâ. Quasi nebenbei eignete sich mein Sohn das Lesen und einfache Rechenoperationen an. Wie das genau passiert ist? Kann ich nicht sagen. Er wohl auch nicht. Es ist einfach die logische Konsequenz aus einer Umgebung von Buchstaben und Zahlen gepaart mit der Triebfeder der Begeisterung. Von den Dinosauriern fand mein Sohn ĂŒbrigens mĂŒhelos den Weg zu den Drachenwesen der Mythologie. Götter, Halbgöttinnen, Helden, Nymphen â alle versammelt in unseren vier WĂ€nden. Wie die Olympische Fackel entzĂŒndet eine Geschichte die nĂ€chste. Eine unendliche Geschichte.
Und, ist das nun etwas AuĂergewöhnliches? Nein. Es ist lediglich die Beschreibung eines Vorgangs, der alle Menschen eint: das Lernen durch Begeisterung. Das Menschenhirn saugt alles auf, wo es Begeisterung erlebt. Immer dort, wo der âemotionale Funkeâ ĂŒberspringt. Das Besondere an der Geschichte meines Sohnes ist ânurâ, dass niemand diesen Vorgang unterbricht. Was leider oft passiert. Und zwar immer dann, wenn die eigene Begeisterung zugedeckt wird von Ideen und Vorgaben anderer. Zum Beispiel wenn die Götter aus dem Bildungsolymp Konzepte ersinnen und an SchicksalsfĂ€den ĂŒber die MenschenhĂ€upter legen. Aber wie wir aus der griechischen Mythologie wissen: Auch Götter irren. Und so möchte ich an alle Irdischen appellieren: Holt eure Begeisterung aus der Unterwelt zurĂŒck, lebt euer persönliches Heldentum und lasst euren Kindern ihre gottgegebene Einzigartigkeit!
© Susanne Sommer 2021-03-27