Das Flüstern der Bäume

mondzart

von mondzart

Story

Als ich acht war, fiel mir zum ersten Mal auf, dass meine Großeltern die einzigen Menschen in meinem Leben waren, die keinen Weihnachtsbaum hatten. Auf den Grund dafür angesprochen, setzte sich mein Großvater feierlich in seinen Sessel vor dem Kamin, hob mich auf seinen Schoß und begann zu erzählen:

„Als ich etwa in deinem Alter war, kehrte mein Vater aus dem Krieg heim. Eine furchtbare Sache, so ein Krieg… er verändert die Menschen. Du wirst später, wenn du älter bist, noch genug darüber lernen; jetzt brauchst du nur zu wissen, dass mein Vater ein anderer war, als er damals zu uns zurückkehrte. Er war ruhelos geworden, rastlos, immer unterwegs, immer auf der Suche. Nach Ruhe, Frieden, Schutz, Geborgenheit. Stundenlang war er unterwegs, ohne dass irgendjemand wusste, wo er sich umtrieb. Dann, eines Tages, folgte ich ihm heimlich. Aus dem Dorf hinaus, über Felder und Wiesen bis in den Wald hinein. Während mein Vater dort umherstreifte, fiel mir auf, dass er jeden Baum, an dem er vorbeikam, mit der Hand berührte. Er fuhr mit seinen Fingern über die Rinde, ja streichelte sie – so als würde er die Bäume grüßen. Dann, plötzlich, blieb er bei einem Baum stehen. Behutsam legte mein Vater seine Hand an die Rinde und wirkte dabei fast ehrfürchtig. Als wolle er für etwas um Erlaubnis fragen. Einige Momente später dann verstand ich auch, was es war: Mein Vater lehnte sich an den Baum, erst sacht, dann schien er dem grünen Waldbewohner immer mehr von seinem Gewicht anzuvertrauen. Schließlich schlang er seine Arme um den Stamm herum und lehnte seinen Kopf an. Eine Ewigkeit lang blieb er so da stehen. So lange bis das Geräusch eines auffliegenden Vogels mich so erschreckte, dass ich aus meinem Versteck hervorsprang und mein Vater mich entdeckte. Doch er war nicht wütend, dass ich ihm gefolgt war. Im Gegenteil: Er schien erleichtert, dass endlich jemand sein Geheimnis kannte und er mit mir darüber sprechen konnte. Er erzählte mir von den Bäumen, die seine Freunde geworden waren, von ihrer Stärke und Weisheit, und wie sie zu ihm sprachen. Er lehrte mich tief in den Baum hineinzuhorchen – bis ich zuerst seinen Herzschlag und dann sein Flüstern hören konnte. Dann brachte er mir bei, in mich selbst hineinzuhorchen. Mein eigenes Herz zu öffnen, um die Sprache der Bäume verstehen zu können. Es linderte seinen Schmerz, seine Angst, seine Traurigkeit. Es brachte das Gute in seine Welt zurück. Mir gab es ein Stück von meinem Vater wieder; über die Bäume waren wir miteinander verbunden.

Seit diesem Tag damals sah ich die Welt anders. Magischer. Und nie in meinem Leben hätte ich es ertragen können, einen Baum zu fällen. Und deshalb, mein Schatz, haben wir keinen Christbaum, Oma und ich.“

Ich schwieg. Fasziniert von der Magie, die plötzlich in allem zu leben schien. Etwas woran ich unbedingt glauben wollte. Etwas woran ich auch heute noch glaube. Ich brauche nur in den Wald zu gehen. Und wenn der Wind ganz sacht durch die Wipfel weht, dann höre ich sie flüstern, die Bäume.

© mondzart 2021-12-19

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