von David C. Niele
Man sagt, wenn der Wind durch die Gassen von Mühldorf heult und die Glocken der Stadtpfarrkirche eine Minute zu früh schlagen, wird die letzte Nacht der Maria Pauer neu geschrieben. Jonas hatte nichts übrig für alte Geschichten. Er war nur wegen der Arbeit in Mühldorf – ein paar Tage, ein paar Übernachtungen in einem kleinen Hotel direkt am Stadtplatz. An seinem ersten Abend, als der Nebel wie kalter Atem durch die engen Gassen schlich, beschloss er, noch eine Runde spazieren zu gehen. Er hatte von der Legende gehört – vom “Hexenkammerl” im alten Rathaus, wo Maria Pauer einst gefangen gehalten worden war. Ein düsteres Relikt, so schien es ihm. Nichts weiter. Die Straßenlaternen flackerten, während Jonas am Münchener Tor vorüberging. Der Platz lag menschenleer. Nur die Schatten der Bäume auf den Pflastersteinen bewegten sich leicht im Wind. Plötzlich hörte er ein Flüstern. Neugierig geworden, folgte er dem wispern und dann stand er vor dem Rathaus. Die Tür war verriegelt, doch das kleine Fenster neben dem Eingang zog Jonas magisch an. Und dann – wieder das Geräusch. Ein leises Wimmern. Verzweifelt, gebrochen. Jonas trat näher und blickte durch das Fenster. Drinnen sah er eine Öffnung in der Wand, kaum mehr als ein kleines Fenster. Dahinter völlige Dunkelheit. Plötzlich erkannte er hinten an der Wand eine schemenhafte Gestalt, die immer deutlicher sichtbar wurde – ein Mädchen. Zitternd, barfuß, angekettet, die langen Haare verklebt vom Schmutz. Sie hob den Kopf, und für einen Herzschlag lang trafen sich ihre Blicke. Leer. Endlos. Schwarze Löcher in einem blassen, wächsernen Gesicht. Jonas wich erschrocken zurück. Ein Schrei formte sich in seiner Kehle, doch kein Laut kam heraus. Als er ein zweites Mal hinsah – war das Mädchen verschwunden. Nur die Ketten am Boden bewegten sich noch leicht, als würde jemand daran ziehen. Jonas rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, quer über den Stadtplatz, hinein in die nächste Gasse. Aber wohin er auch lief – ein Flüstern verfolgte ihn. “Unschuldig…, unschuldig…” Immer wieder. Immer näher. Immer eindringlicher. Am Rand seines Blickfelds sah er Gestalten – barfüßig, mit zerschlissenen Kleidern, Hände ausgestreckt, als wollten sie ihn berühren. Als er endlich atemlos vor seinem Hotel ankam, war der Platz leer. Die Nacht war still. Zu still. Er schwor sich, Mühldorf am nächsten Morgen zu verlassen. Doch als er sich im Foyer umsah, bemerkte er ein altes Porträt an der Wand. Darauf das Bild eines Mädchens. Blasse Haut. Leere Augen. Darunter stand auf einer Gedenktafel:
“Maria Pauer – letztes Opfer des Mühldorfer Hexenwahns, 1749.”
Und in diesem Moment – als Jonas glaubte, sicher zu sein – spürte er eine eiskalte Hand, die seine Schulter berührte. Er drehte sich um. Aber niemand war da. Nur ein leises Wispern “Unschuldig…”, und eine Träne, die ihm – kalt und fremd über die Wange lief.
© David C. Niele 2025-04-22