von Bernhard Kutzler
Was siehst Du auf diesem Bild?
Du siehst ein grünes Quadrat, das vier schwarze Kreisflächen teilweise überdeckt. Allerdings gibt es in diesem Bild kein Quadrat, denn es gibt in ihm keine vier gleich langen Seiten, die in 90°-Winkeln aufeinander stehen. In diesem Bild gibt es nur vier schwarze Dreiviertel-Kreisflächen.
Trotz dieser Erkenntnis siehst Du weiterhin ein Quadrat.
Warum siehst Du etwas, das nicht da ist?
Es gibt ein Radio-Quiz, bei dem der Titel eines Liedes gesucht ist, von dem man die ersten paar Noten gehört hat. Das gelingt nur, wenn Du die Melodie kennst, dh wenn Du mit ihr vertraut bist.
Ebenso erkennst Du ein Dir bekanntes Objekt oder eine Dir bekannte Person in einer Skizze, sofern diese die wichtigsten charakteristischen Merkmale zeigt. Für Albert Einstein genügen chaotisches Haar und ein dichter Schnauzbart.
Die vier Dreiviertel-Kreisflächen sind so angeordnet, dass sie die charakteristischen Merkmale eines Quadrats zeigen: vier rechte Winkel, Geradheit, Gleichheit und Symmetrien.
Du siehst ein Quadrat, weil Du ein Quadrat erkennst.
Du erkennst ein Quadrat, weil das Bild ein Quadrat andeutet.
Das Bild deutet ein Quadrat an, weil es genug charakteristische Merkmale eines Quadrats aufweist.
Diese Merkmale reichen Dir, um ein Quadrat zu erkennen, weil Du mit Quadraten vertraut bist.
Du bist mit Quadraten und anderen rechtwinkeligen Formen vertraut, weil Du in Deinem Leben unzählige Quadrate und andere rechtwinkelige Formen gesehen hast, wie zB Bücher, Fliesen, Türen, Räume und Häuser.
Die zivilisierte Welt ist voll von rechtwinkeligen Objekten. Wer in dieser Welt lebt, wird programmiert (konditioniert), rechtwinkelige Formen zu sehen.
Doch auch nach dieser Analyse bleibt es schwierig, kein grünes Quadrat zu sehen, das vier schwarze Kreisflächen teilweise überdeckt.
Warum?
Deine Vertrautheit mit Quadraten ist so groß, dass Du süchtig danach bist, Quadrate zu sehen: Dein Verstand vervollständigt die Andeutung eines Quadrats automatisch zu einem Quadrat.
(In meinem Buch „Bewusstsein“ beschreibe ich die Mechanismen.)
Versuche, kein Quadrat, sondern nur vier Dreiviertel-Kreisflächen zu sehen. Überlege, wie Du das erreichen kannst. Übe.
Erkennst Du Dein geistiges Gefängnis?
Du nimmst wahr, was wahrzunehmen Du (freiwillig oder unfreiwillig) gelernt hast.
Das gilt nicht nur für Wahrnehmungen. Das gilt für Verhalten im Allgemeinen inklusive Denken.
Du verhältst Dich, wie Du Dich zu verhalten gelernt hast.
Du denkst, wie zu denken Du gelernt hast.
(Siehe „ANDERE Geschichte vom Adler im Hühnerstall“ und „Wer hat heute Morgen mein Frühstück gewählt?“)
Du bist süchtig danach, Dich auf gewisse Art zu verhalten – und zu denken. Dein Verstand erzeugt automatisch aus einer auslösenden Situation Dein Verhalten und Deine Gedanken.
Das ist das Gefängnis für Deinen Verstand.
Du kannst davon frei werden so, wie Du Dich vom Sehen des Quadrats befreien kannst: erkenne, analysiere, übe.
© Bernhard Kutzler 2020-08-09