von Ulrike Sammer
Ich habe eine Menge sehr beeindruckender Reisen zu Steinbildern in vielen LĂ€ndern gemacht, aber eine Region werde ich nie vergessen: das Val Camonica in der Lombardei. Es liegt ja gar nicht so weit entfernt und doch kennen es relativ wenige Menschen.
Die Felsritzungen des Valcamonica in der norditalienischen Lombardei sind die weltweit gröĂte Fundregion prĂ€historischer Petroglyphen. Die Felsbildregion war im Jahre 1979 das erste von der UNESCO als Welterbe anerkannte Objekt in Italien. Im Valcamonica haben Menschen prĂ€historischer Kulturen etwa 300 000 Bilder, in den Fels gemeiĂelt. Die meist Jahrtausende alten Darstellungen von Menschen, Tieren, GegenstĂ€nden und abstrakten Mustern sind jedoch nur schwer zugĂ€nglich. Die Felsritzungen sind auf einer Strecke von 25 Kilometern entlang des Tals verteilt und liegen auf Höhen zwischen 200 und 1400 m. Die Kunst des Valcamonica zeichnet sich im Laufe von etwa 10.000 Jahren durch einen periodischen Wandel der Stile und Motive aus. Sie bilden ein Archiv europĂ€ischer Geschichte, das sich vom Ende der Eiszeit bis zur Römischen Kaiserzeit erstreckt.
Warum aber ist an diesem Ort so eine Ansammlung von Felsritzbildern? Es gibt hier ein besonderes Naturschauspiel: Der beherrschende Berg, der Pizzo Badile Camuno, zeigt nicht nur seine majestĂ€tische GröĂe, sondern auch seinen Schatten, der sich am Himmel abzeichnet. Dieses PhĂ€nomen, dass man zu Beginn des FrĂŒhlings und des Herbstes bewundern kann, nennt man noch heute âGeist des Bergesâ. Sicher erlagen die einstigen Talbewohner der Faszination einer derartigen Naturerscheinung und sahen deswegen den Berg als heilig an. Vielleicht sind deshalb die Felszeichnungen des Camonica-Tals an den Flanken des Pizzo Badile und auf den Felsen der gegenĂŒberliegenden Talseite konzentriert.
JĂ€ger und Sammler, KĂ€mpfer und Reiter, HĂ€user, Tiere, Schriften in etruskischem Alphabet und abstrakte Symbole: Tausende in Stein gemeiĂelte Darstellungen ĂŒberziehen die grauen Felsen des Tales Valcamonica. Sie zeigen Jagd-, Duell- und Tanzszenen, sowie Europas erste Landkarte.
Vor mehr als 30 Jahren erwanderten mein Mann und ich beide Seiten des Tales. Damals war das sehr mĂŒhsam, denn wir mussten durch GestrĂŒpp und Dornen die oft schwer zugĂ€nglichen Felsbilder finden. Sie waren zudem manchmal sehr verwittert und kaum zu sehen. Mit irrem, stĂ€ndig nach MĂ€nnchen und Tieren suchendem Blick, kletterten wir durch Stock und Stein und holten uns etliche Kratzer. Aber immerhin: Wir fanden die besonders schönen Figuren und komplexen Szenen. Heute zĂ€hlt dieses Gebiet zum UNESCO-Weltkulturerbe, wurde gangbarer gemacht und ist Gegenstand eines Projektes zur Registrierung aller Bilder. Ein Museum im Talgrund gibt eine gute EinfĂŒhrung.
Abends waren wir völlig erschöpft, aber glĂŒcklich ĂŒber unsere Expedition.
© Ulrike Sammer 2025-03-09