von Hannes Stuber
Auf der Rückfahrt von Portugal begann ich in einem Café in Zaragossa, das Buch „Die Handschriften von Zaragossa“ zu lesen. Das hatte ich mir extra so eingeteilt. Das Werk wurde vor zwei Jahrhunderten vom polnischen Grafen Jan Potocki geschrieben. Ich fand eine Stelle, wo Potocki eine Templerkirche in L’Epine bei Chalons erwähnte, die ein Geheimnis besäße. Ich suchte die französische Landkarte ab. Es dauerte lange Jahre, ehe ich das richtige L’Epine fand.
Fünf Jahre später fuhr ich dorthin, um das Geheimnis aufzuspüren – in das Dorf L’Epine, nicht weit entfernt von Troyes, dem Gründungsort der Tempelritter, und wenige Kilometer hinter Chalons, jener Stadt, in der man die Nabelschnur von Jesus als Reliquie verehrt. Es war Herbst, die Zeit der Treibjagd in der Champagne. In breiten Reihen marschierten Männer mit geschulterten Gewehren neben ihren Jagdhunden über die Felder. Schon von weitem sah ich die beiden Türme der Basilika von L’Epine, ein pompöser Bau aus hellem Stein, durch den die alte kleine Templerkirche ersetzt worden war.
Die riesige Kirche passte überhaupt nicht in das winzige Bauerndorf. Sie besaß drei Portale. Dutzende Monster, grässliche Wasser speiende Gargoylen, die das Böse abwehren sollten, bewachten sie an der Vorderseite. Ich schob die massive Holztür auf. Der direkte Blick zum Altar war verstellt. In der Mitte des Raumes befand sich ein reich verziertes Hauptschiff.
Die Legende von L’Epine besagt, die Gottesmutter wäre einem Schäfer in einem Rosenbusch erschienen. Exakt an diesem Ort, der jetzt unter den Orgelpfeifen lag, baute man einen Brunnen, der Wasser hervorbrachte, das Frauen fruchtbar machen sollte. Aber er war von Schmiedearbeiten beschützt und gut versperrt. War dieses Wasser das Geheimnis?
Hinter dem Altar, an der Rückwand der Kirche breiteten sich fünf offene Kapellen aus, jene in der Mitte war der Magdalena gewidmet und als einzige mit Pfosten verbarrikadiert!
Ich sah mich um: Ich war allein in dem riesigen Gotteshaus. Entschlossen sprang ich über die hölzerne Barriere. Es hallte laut in der leeren Kirche, als die Absätze meiner Stiefel auf den Steinboden knallten. Über den Altartisch, auf dem eine Vase mit frischen Lilien stand, war eine bestickte weiße Decke gebreitet. An der Vorderseite trägt der Altar eine Reliefarbeit: zwei Engelsköpfe, einige Ornamente und die Köpfe dreier Männer. Die beiden äußeren Männer schauen nach innen, auf das Gesicht in der Mitte, das Antlitz Jesu, so wie man es kennt, und das einen frontal ansieht.
Unter seinem Kopf war ein Schriftzug in den Stein gehauen: Marie Magdalene. So geschrieben, dass ihr Name exakt unter Jesu Kopf stand. Dahinter befand sich die Jahreszahl 1842. Zur 300-Jahres-Feier der Fertigstellung der Basilika also hatte man diesen Altar gespendet, mit Jesu Kopf über dem Namen der Magdalena. Besser hätte man damals das Geheimnis der Liebesbeziehung zwischen „Gott“ und der „Hure“ in einer Kirche nicht präsentieren können.
© Hannes Stuber 2019-04-20