von Leo Mladzinau
Die Wärme damals tat mir wiederum gut und ich wollte glauben, dass nur sie und ich dadurch verbunden waren und kein anderer. Doch ihr Blick war zerrüttet, selbst die kleinste Bewegung schien ihr schwer zu fallen und die Kraft, die Süße zu schmecken, war ihr abhandengekommen. Ich wagte es nicht, ihr noch mehr Zeit zu rauben und lief an ihr vorüber, grüßte sie im Vorbeigehen. Sie antwortete mir verhalten, doch ob sie mich erkannte oder nicht, blieb mir unerfindlich. Nach diesem kurzen, unbestimmten Wiedersehen, verschwand sie aufs Neue. Manch einer sagte, sie wäre fort, andere schworen, sie hätten sie erst gestern gesehen, sie strahlte bunter als die Blumenwiese, und nur ihr Kleid und Schmuck hingen lose an ihrem geschwächten Körper, doch blieb sie in diesen Erzählungen stets allein. Etwas zu den Geschichten beizutragen fiel mir nicht ein, auch hegte ich keinen Wunsch, dies zu tun. Und doch, eines Tages, als ich an dem alten Schulgebäude entlang ging, das von einem krummen, verrosteten Zaun umschlossen war, auf einem zugewachsenen, menschenvergessen Pfad, sah ich sie mir entgegenschweben, in ihrem Lied und Lethe untergegangen. Für einen Moment fiel mir ein, ich könnte mich verstecken, irgendwo in der Nähe die richtige Stelle dafür finden, nur damit sie nicht aufhören würde, das Lied weiterzusingen. Doch den Gedanken, der mir darauf plötzlich unreif, albern schmeckte, wies ich von mir ab, wie ich es in den letzten Jahren immer öfter zu tun pflege und dieses Verhalten nicht ohne Verdruss an mir beobachte. Schließlich wurde ich gemerkt, das Lied erstarb. Es war zu spät.
Die Lücke zwischen uns war schnell geschlossen, ich kam ihr näher und wir begrüßten uns. Sie erfragte meine Angelegenheiten, doch meine Antworten waren dürftig. An dieser Stelle, als ich meinen Bericht gab, wurde mir klar, dass das die letzte Gelegenheit sein wird, sie zu fragen, mit ihr zu reden, doch musste die Frage richtig sein, fein gestellt, ohne Kränkung im Inneren, aber ich verlor mich in eigener Unsicherheit, in der Angst, ihr das letzte zu rauben, was sie hatte und wurde von der Schwäche übermannt. Sobald ich zu Ende sprach, war sie bereits im Begriff, sich zu verabschieden und ihr Lied von der Stelle wieder aufzunehmen, an dem ich dieses unterbrach. Sie wünschte mir alles Gute und war fort, während meine Gedanken über ihre dünnen Finger stolperten, die keinen Ring mehr trugen, über ihre Lippen, vertrocknet und zerbissen und über ihren Gang, der nicht mehr mit dem Rhythmus des Liedes mitkam. Es verging einige Zeit, bevor ich wieder zur Besinnung fand und weitergehen konnte.
Zwei Wochen später erzählte mir jemand, er hätte sie wiedergesehen. Sie war in Hast, so, als ob etwas oder jemand sie einholen könnte, von dem sie weg zu laufen versuchte, stets zurückblickend. Andere behaupteten, sie nachts gesehen zu haben, allein, irgendwo in einer Gasse stehend, so, als würde sie sich dort verstecken können, ihre Glieder wie eingefroren und der Blick auf einen Punkt gerichtet, von diesem Punkt geleitet. Mir schien das alles gleich einer Erzählung, einer Fiktion, ausgeschmückt von Leuten unserer kleinen Stadt. Ich meinerseits bin ihr seitdem nie wieder begegnet und was aus ihr wurde, ob sie nun verschwand oder wegging oder etwas Drittes, weiß ich auch nicht. Ich erinnerte mich noch selten an sie, außer in Momenten wie jetzt, wenn der erste Schnee fällt.
© Leo Mladzinau 2024-03-01