Das Glas mit den Wünschen

Lissi Winter

von Lissi Winter

Story

Meine Wünsche liegen alle in einem Glas. Fein säuberlich aufgeschrieben, gut versteckt unter Scherben, tausendmal zerbrochen, tausendmal geflickt. Man sieht die Kanten noch, Bruchstellen die nicht mehr zusammenpassen. 

Manchmal, wenn niemand hinsieht, schleich ich mich an den Ort, an dem das Glas versteckt ist. Vielleicht kommt mal ein Zettel dazu, aber das ist selten geworden. 

Dann denk‘ ich, das Mosaik ist eigentlich ganz schön. Harmlos und rein, gezeichnet mit Hoffnung und Liebe und Sehnsucht. Bis ich mich an den Scherben schneide, denn Hoffnung ist manchmal vergebens, wer liebt, der hasst auch und die Sehnsucht macht einen wahnsinnig. 

Ich schließe das Glas wieder weg, lass es in seinem Versteck und egal wie schön es im Sonnenlicht funkelt, schau‘ ich dran vorbei. 

Das klappt seit einer Weile ganz gut. 

Bis ich heute auf den Balkon gegangen bin und das Glas gefunden hab, ganz und gar unsicher und klar. Statt in fein säuberlicher Schrift auf Papier gebannt, lehnten die Wünsche am Balkongeländer, wie Schatten einer Zukunft, die es wahrscheinlich nie geben würde.

Da ist das Wunschglas runtergefallen. Neue Sprünge, neue Scherben, neue Schnitte unter der Haut. Plötzlich wieder lose Zettel, fein säuberlich beschriftet, zerrissen und wieder zusammengeklebt. 

Vor mir lagen sie, die Hoffnung, die Sehnsucht, die Liebe, ausgekippt wie umgefallene Tintenfässer. Und die Flecken gehen so furchtbar schwer raus.

Vielleicht hab ich morgen Zeit, alles zusammenzukehren. Bestimmt werd‘ ich mich wieder schneiden. Wie oft lässt sich ein Wunschglas eigentlich wieder zusammenkleben?

Mein Herz will jedenfalls nicht mehr brechen, aber tut es trotzdem immer wieder. Jedes Mal ein kleines bisschen mehr. 

Und mein Wunschglas ist jedes Mal ein bisschen weniger sicher als vorher. Geht jedes Mal ein bisschen mehr verloren, an dem geheimen Ort mit den vielen Scherben. 

© Lissi Winter 2025-04-28

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