Das graue Haar

Alexander Heller

von Alexander Heller

Story

„Wieder eins“, murmele ich, während ich in den Spiegel blicke. Zurzeit kommt es mir vor, als würden minütlich neue graue Haare aus meinem Kopf wachsen. Wenn ich nur wüsste, woran das liegt. Wahrscheinlich muss es das Alter sein. Obwohl ich Menschen kenne, die sind fast doppelt so alt wie ich und haben immer noch farbiges Haar, auch ohne Tönung oder sonstiger Chemie. Vielleicht ist es auch nicht generell das Alter, sondern nur mein Alter. Mein Körper hatte ab 32 schlichtweg keine Lust mehr unter den Arbeitsbedingungen dieselbe Leistung zu bringen. Ich kann das vollkommen nachvollziehen, da ich selbst in den letzten Jahren mehrmals den Arbeitgeber gewechselt habe. Im Gegensatz zu meinem Körper habe ich aber meine erhaltene Leistung im Vergleich zu meinem geleisteten Einsatz erhöht. Mein Körper hingegen leistet weniger Arbeit, möchte aber dieselbe Bezahlung in Form von Ernährung und körperlicher Auslastung haben.

Vor 20 Jahren konnte ich essen und trinken, was ich wollte, und nahm kein Gramm zu. Heute muss ich die Schokolade nur schief ansehen und der komplette Energiehaushalt aus Kakao und Zucker wandert direkt auf meine Hüften. Konnte ich früher ohne Probleme die Nächte durchmachen, treffe ich mich mit Freunden nur noch an einem Freitag. Somit habe ich Samstag und Sonntag für die Erholung, damit ich am Montag wieder ins wohlverdiente Hamsterrad steigen kann. Esse ich nach 23 Uhr etwas, kann ich schlecht einschlafen. Schlafe ich nach 24 Uhr ein, wache ich mit Augenringen bis zum Boden wieder auf. Ich fühlte mich wie ein Gremlin, den man nach Mitternacht nicht mehr füttern sollte, weil er sich sonst in eine böse Gestalt verwandelt, nur dass ich wie ein übermüdeter Panda aussehe, allerdings nicht so niedlich. Jeden Morgen muss ich mir die Frage stellen, ob die Schmerzen nur dadurch kommen, dass ich mich verlegen habe oder ob sie jetzt bleiben, wie die Kalkdrüse, die seit ein paar Wochen meinen Rücken ziert.

Meine Gedanken werden abrupt von dem Wecker unterbrochen, der wie wild klingelt. Ich muss dringend los, um noch die Bahn zu bekommen. Ich schlüpfe in meine Schuhe mit den orthopädischen Einlagen, damit ich keine Knieschmerzen bekomme und lege noch ein Wärmepflaster an den Bandscheiben nach. Ich bin wieder viel zu spät dran und schon morgens um 7 Uhr total unter Strom. Heute wird ein langer Arbeitstag, an dem ich mehr arbeite als atmen werde. Ich werde von einem Termin zum anderen rennen, auf das Mittagessen verzichten, damit ich pünktlich um 20 Uhr wieder zu Hause bin. Ich habe allerdings immer noch keine Ahnung, warum mir minütlich neue graue Haare wachsen.

© Alexander Heller 2022-02-13

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